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Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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einen kleinen Schalter, mit dem man einfallendes Licht ausknipste? Die Wahrheit ist kruder. Ich log mir etwas vor. Im Sinne von Margret Boveris «Wir lügen alle» – auf eine andere Diktatur bezogen – lebte und arbeitete ich als «anständiger Lügner». Im hochgemuten Selbstbewußtsein, nicht Mitglied der SED zu sein – ein veritabler «Sonderfall» für die vergleichsweise hohe Position –, tat ich genau das, was ich Jahre später (und bis heute) den großen Furtwänglers und Gründgens’ wie den kleinen Mitarbeitern am «Reich» vorgehalten habe: ich «schmuggelte» Bücher ins schließlich weitgehend von mir bestimmte Verlagsprogramm und stibitzte mir diesen Lorbeer. Auch das, allerdings, ist wahr: Es bedurfte einiger Mogelkünste, jene Autoren «durchzusetzen», mit denen sich später viele westdeutsche Verlage schmückten – Éluard und Majakowski, Tibor Déry und Bulgakow, García Márquez und Amado und Reiner Kunze; von den schwer zu ergatternden (und noch schwerer bei der Polit-Bürokratie durchzusetzenden) «West-Lizenzen» ganz zu schweigen – William Faulkner und Mouloud Feraoun so gut wie Kurt Tucholsky (die Dokumente der Schlacht um diese Edition füllen mehrere Leitz-Ordner). Ja, das war ehrbar wie riskant. Das «Zeugnis», das mir die mich beobachtende Stasi ausstellte, kann sich sehen lassen. Da wird mir attestiert, daß ich ein «netter, ernster und höflicher Mensch» sei, der keine Frauenbekanntschaften hat, nicht trinkt und nicht raucht (was alles drei nicht stimmte); vor allem aber, daß ich aufgrund meines «Intellekts, Auftretens und Arbeitseifers stets das Vorbild der jungen Lektoren» gewesen sei und meine Prinzipien «einer demokratisch-bürgerlich orientierten, künstlerisch hochstehenden Literatur» immer verfolgt habe. Nun ja. Vermerkt wird auch, daß ich es abgelehnt habe, Mitglied der «Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft» zu werden. Und hier wird es prekär. Denn das war eine der sogenannten «gesellschaftlichen Grundorganisationen», in denen Mitglied zu sein so allgemein selbstverständlich war, wie es das Amen in der Kirche ist. Das zu verweigern war freches Sakrileg, und mein recht keckes «Ich liebe keine Einbahnstraßen, ich gehe da erst rein, wenn es umgekehrt auch eine ‹Gesellschaft für sowjetisch-deutsche Freundschaft› gibt» nicht einmal ganz ungefährlich. Diese Weigerung habe ich als «Mut» deklariert. Doch schaukelt der selbstverliehene Mut-Orden nicht doch recht schiefschultrig? Was wäre denn schon die ärgste Konsequenz gewesen? Doch nicht das Lager in Workuta. Die Sache erinnert fatal an eine gespenstische Anekdote, die der Emigrant Alfred Kantorowicz mit gutem Grund oft erzählte, zurückgekehrt aus den USA in die DDR , die er 1956 wieder verließ: Pogrom in Galizien; ein Dorf wird gebrandschatzt; der Rabbiner wird in einen Kreidekreis gestellt; es wird ihm bei Androhung der Todesstrafe verboten, den zu verlassen; Frau und Tochter werden vor seinen Augen vergewaltigt; später findet man ihn lächelnd im Kreidekreis stehen: «Aber Rebbe, sie haben das Dorf abgebrannt, 38  Leute ermordet, deine Frau, deine Tochter vergewaltigt – was stehst du da und lächelst?» – «Ja, und sie haben mich mit dem Tode bedroht, wenn ich aus dem Kreidekreis herausträte; aber sie haben nicht gemerkt, daß ich meine Fußspitze über den Rand geschoben habe.»
    Die Fußspitze also. Sie hieß bei mir: ein Buch mehr, eine leicht waghalsige (bald verbotene) Kolumne in der «Berliner Zeitung». Das verbrannte Dorf aber hieß Bautzen oder Workuta. Dorthin, nach Sibirien, hatte man den nicht linientreuen Leo Bauer, Intendant des Ostberliner Deutschlandsenders, verbracht. Ich hatte ihn gut gekannt, mit ihm gegessen, diskutiert. Nun war er «weg» – und gefragt habe ich nicht. Auch nicht, als Joachim Schwelien, der befreundete Chefredakteur des Nachrichtenbüros ADN , abgesetzt wurde. Auch nicht, als der junge Lyriker Horst Bienek verhaftet wurde, er verschwand ebenfalls für lange Jahre in Workuta. Verhaftet wurde er, Assistent am Berliner Ensemble, übrigens in der Theaterkantine; sein Chef, Bertolt Brecht, protestierte mit keiner Silbe, und die Mutter Courage Helene Weigel blieb ohne Courage stumm.
    Aber ich will gar nicht nach dem verknarzten Wurzelwerk der Altvorderen fragen, nicht nach der somnambulen Trinkerin Anna Seghers, dem blinden, geduckten Arnold Zweig, dem seine eigenen frühen Gedichte verbietenden Johannes R. Becher; ich habe das

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