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Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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sogar getan in langen Interviews mit Stefan Heym oder Jorge Amado oder Jorge Semprún: wieso sie schweigend mitgemacht haben, uns Jüngeren nie Zeugnis gaben etwa von den Stalinprozessen 1935  – kein Ernst Bloch, kein Pablo Neruda.
    Ich will MICH befragen. Kein «Ich wußte davon nichts» ist vorzutragen, mit dem Millionen Deutsche sich exkulpierten nach 1945 . ICH wußte – von abgesetzten Stücken, von zurückgezogenen Filmen, von verbotenen Büchern (oft genug «meine» des Verlags Volk und Welt). Wobei ich die Fußspitze über den Kreiderand streckte, mich freute über ein subversives Gedicht in einer Anthologie, ein Böll-Buch im Verlagsprogramm, über eigene kleine Unverschämtheiten auch. So beschied ich den mich oft bedrängenden SED -Parteisekretär – er war Vertriebsleiter und kam ebenso oft drucksend um «mehr West-Lizenzen» bittend, weil diese Bücher sich verkauften –, den also beschied ich mit einem «Sie reden immer von ‹der Partei›, in die ich eintreten soll – welche meinen Sie eigentlich? Es gibt mehrere Parteien in der DDR .» Kümmerliches Aufmüpfen.
    Ich wußte aber noch ganz anderes. Vermutlich war ich einer von sechs bis acht Menschen in der DDR , die ganz genaue Kenntnis hatten vom Würge-Elend der Eingekerkerten, der Not, dem Hunger, den Epidemien und dem Tod der politischen Gefangenen des Regimes. Und das kam so. Mein Vormund und Pflegevater, der evangelische Pastor Hans-Joachim Mund, SED -Mitglied, ehemaliger ZK -Mitarbeiter (solche bizarren Biographien hielt das Nachkriegsdeutschland im Angebot), war auf der Basis eines heimlichen Konkordats – es hieß nicht so, war wohl nur ein stillschweigendes Abkommen zwischen der evangelischen Kirchenleitung des Propstes Grüber und dem Politbüro – zum Anstaltspfarrer sämtlicher politischen Haftanstalten der DDR berufen worden; von Bautzen bis Brandenburg, in meiner Erinnerung waren es fünfzehn. Er als einziger hatte «freien Zutritt», durfte Gottesdienste abhalten, die Beichte abnehmen und – das Entscheidende – hatte das verbriefte Recht zu Einzelgesprächen mit Häftlingen in seinem Pastorenraum. Daß ich auf diese Weise später, nach dessen Freilassung, seinen damaligen Chorleiter Walter Kempowski in meinen Rowohlt-Jahren kennenlernte, ihn als Autor «entdeckte» und förderte, ist inzwischen Literaturgeschichte und gehört im Detail nicht hierher; Kempowski hat das jüngst noch einmal in dem Sammelband «Das erste Buch» dokumentiert.
    Was aber sehr wohl hierhergehört: das Grauen dieser Lager (seinerzeit soeben von den sowjetischen Militärs übernommen) war mir mehr als präsent. Oft genug habe ich den Pastor Mund auf diesen entsetzlichen «Dienstreisen» begleitet, im Hotel auf das schließlich bleich hereinwankende, zitternde Gespenst gewartet, ihn nachts schweißnaß schreien hören und um sich schlagen sehen, denn mein Pflegevater und ich – es ist inzwischen kein Geheimnis mehr – waren einander ja mehr als Vormund und Mündel. Seine Ausbrüche über Hinrichtungen, Eiskellerfolter, Tuberkulose-Epidemien (er hat sich dort schließlich angesteckt), die er miterlebte – wahrlich, das hatte eine andere Dimension als der unterdrückte Band IV meiner Tucholsky-Ausgabe.
    Wie gerne möchte ich mogeln. Mich zu einem kleinen Helden stilisieren, der Kassiber schmuggelte und Medikamente aus Westberlin von den Quäkern holte (sie waren die einzigen, die mit Geldmitteln halfen) oder Orangen und Bananen. Mit denen setzte sich der Herr SED -Pfarrer (er hatte der Dienlichkeit wegen auch einen hohen Volkspolizeirang) dann in die «Empfangszelle», schälte sie – und reichte sie einem der Verdammten. Für mich, der ja wie alle DDR -Bürger vor dem Mauerbau ungehindert nach Westberlin mit der S-Bahn fahren konnte, war das wenig gefährlich, es brauchte etwas Schläue, rechtzeitig umzusteigen, wenn Volkspolizei den aus Neukölln einfahrenden Zug und die Taschen der Hausfrauen kontrollierte. Vielleicht war gar etwas Lust am Indianerspiel mit dabei, etwa, als ich Kempowskis Mutter in Hamburg einen aus Bautzen herausgeschmuggelten Brief ihres Sohnes überbrachte; sie hielt mich übrigens für einen Agenten und ließ mich nicht durch die Tür.
    Mogelei bleibt es. Hätte ich nicht aufschreien müssen? Hätte ich nicht zum «Feind» RIAS , zu den Kollegen vom «Monat», zum bösen «Tagesspiegel» gehen müssen? War es nicht – immer stieke – die berühmte Tafel Schokolade, die Emma Schulze 1935 dem Nachbarskind Sarah

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