Stahlstiche
das wir alten Berliner Juden «Nur ka Risches» nannten und das auf Neudeutsch heißt «Beifahrer machen keine Unfälle». Fahrer gesucht.
IV .
Es ist mir egal, wenn es hochmütig klingt; das Wort hat auch mit «hohem Mut» zu tun: Es wäre/es ist Sache der Intellektuellen, Sehnsüchte zu formulieren. Nicht die Wohnungsbauminister und Familienministerinnen haben 1956 und jetzt in Polen, 1956 und jetzt in Ungarn irgend etwas in Bewegung gebracht. Immer waren es die «Spinner», die Kolakowski und Czesław Miłosz, die Lukács, Tibor Déry und Julius Hay. Wie es den Unterschied von Kunst zur Trivialkunst definiert, daß nicht der Horizont abgemalt, sondern hinter den Horizont gegriffen wird – so definiert sich der Unterschied des politisch handelnden Denkers zum kleinen Populissimus an seiner Kraft zur Utopie.
Kein Zufall, daß diese Debatte nun hin- und herrollt wie ein Gewitter, das sich nicht ganz entlädt – zwischen Schriftstellern. Stefan Heym, der nie seine Zunge zur Schillerlocke gerollt, schreibt: «Selbst in Deutschland, diesem Deutschland, müßte die alte Weisheit des Heraklit doch Gültigkeit haben:
Panta rhei,
alles fließt, alles verändert sich … Diese Grenze wird, wenn das neue Denken an Anhang gewinnt in West und Ost, menschlicher werden. Ihre Dimension wird schrumpfen, und eines Tags, wenn allen erkennbar geworden, daß auch sie nur ein Provisorium und nicht mehr vonnöten zwischen Nachbarn in einem Haus, die miteinander zu leben gezwungen sind, wird sie verschwinden.» Der das formuliert, der weiß, wovon er spricht: nämlich auch von dem, was ihm von uns angetan. Unvergeßlich die Szene (in Stefan Heyms Memoiren), wie der Ex-Exilant in amerikanischer Uniform nach dem Grab seines ermordeten Vaters sucht. Vergebens. Es gab kein Grab.
Dessen –
pars pro toto
– hat eingedenk zu sein, wer über
ein
Deutschland spricht. Der ekelhafte Lügenbrei aus «Wir haben nichts gewußt» und «Wir waren ein verfolgtes Volk» und «Wir haben nur unser Vaterland verteidigt», der Hirne und Herzen verkleistert, wird noch immer so gerne verabreicht wie geschlabbert. Wer das Risiko nicht eingeht – frei nach Heinrich Böll –, einzubekennen, daß eine nationale Schuld jenseits persönlicher Schuldfreiheit von uns Deutschen noch Generationen hindurch zu tragen ist – der hat hier keine Lippe zu riskieren.
Aber das hat Martin Walser in seinem so bewundernswert frei-mütigen Aufsatz «Über Deutschland reden» ( DIE ZEIT , 45 / 1988 ) getan; beides: das Risiko nicht gescheut und die Lippe riskiert. Nirgendwo finde ich «nationalistisches Geschwafel», das Jurek Becker ihm in seiner Antwort ( DIE ZEIT , 47 / 1988 ) unterstellt, und nirgendwo das Wort vom «Diktat» des Auslands.
Da ist etwas Seltsames passiert: Der Schriftsteller Jurek Becker, glorioser Historiograph deutscher wie deutsch-deutscher Schuld – von «Jakob der Lügner» zu «Bronsteins Kinder» –, hat die Frage theoretisch nicht begriffen und praktisch gelöst. Der erste Satz seiner Replik ist, was Adorno eine «Blague» nannte: «Wenn jemand am Unsagbaren leidet, muß ihm der Versuch, seine Not in Worte zu kleiden, mißlingen, das liegt im Wesen der Sache.» Womit ganze Bibliotheken ausgerottet wären – als gäbe es ein einziges Werk der Philosophie oder der Literatur, das nicht genau diese Sisyphos-Arbeit versucht: Unsagbares zu sagen. Becker federt sich ab in schön geschriebener Animosität. Aber er vergißt, einen winzigen Umstand zu erwähnen: Er
ist
die praktizierte deutsche Einheit. Er hat einen DDR -Paß, mit befristeter Erlaubnis, in der BRD (oder in Amerika) zu leben und sein Geld – statt es per Zwangskurs umzutauschen – hier zu verbrauchen, wo er ein gerühmter Romancier und hochbezahlter Fernsehautor ist – dessen Bücher
auch
in der DDR erscheinen. Er bedient sich einer polemischen Kunstfigur als Frage: Was will Walser überhaupt; was wollen alle die, wir alle, die wir uns nicht abfinden mögen? Die Antwort ist eine Silbe lang: das. Jurek Becker hat die Teilung Deutschlands für sich aufgehoben – und vielleicht hätte Uwe Johnson gerne umgekehrt so gelebt: ohne Paß-, Visum-, Geldzwänge in Leipzig wohnend, aber in Westberlin zu Hause, gedruckt hüben wie drüben, reisend wann und wohin man will; und Walter Kempowski in Rostock und Hartmut Lange in Berlin/ DDR ? Vielleicht würde Fritz J. Raddatz gerne mal zwei Jahre eine Literatursendung im DDR -Fernsehen machen und Rolf Hochhuth – mit seinem
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