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Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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Projekt rettete; der ostentative Besuch durch Staatspräsident Wilhelm Pieck und Sowjetbotschafter Semjonow darf wohl als Geste der Unterstützung verstanden werden. Doch noch ein Jahrzehnt dräuten die Wolken mit Blitzen; in einer semioffiziellen Stellungnahme der Blockpartei NDPD zu Franz Fühmanns Erzählung «Ernst Barlach, das schlimme Jahr» hieß es:
    Die Gedanken, die Fühmann Barlach zueignet, können nur als Ausgeburten politischer Naivität eines verquollenen und verwaschenen Idealismus und Pazifismus begriffen werden. Nichtwissen und Ratlosigkeit werden mystifiziert, ebenso die Rolle der Kunst … Das Verhältnis dieses Barlach zu seinen Kunstwerken wirkt wie die Betrachtung einer Kunst im luftleeren Raum, wie eine Anbetung der Kunst an sich, ohne nach dem Volk und den Möglichkeiten seines Verständnisses zu fragen. Dieses Volk wird verachtet, weil es offenbar noch kein Verhältnis zu dieser Kunst hat … Eine solche Haltung gerät schon sehr in die Nähe von Nietzsche mit seiner Verachtung der Massen. Sie wird penetrant, wenn man bedenkt, daß ein Franz Fühmann sie im Jahre 1962 / 63 über die Gestalt seines Barlach proklamiert.
    Die Mühlen der Zensur jedoch, einmal rechts, einmal links, mahlten in beiden Deutschlands gemeinhin viel feiner, der Öffentlichkeit kaum erkennbar. Hie war es die – keineswegs unpolitische – Zensur des Marktes, dort war es die – Gesetze des Marktes ignorierende – Zensur der Ideologie. Während die Verlage der Bundesrepublik ganze Traditionsstränge der deutschen Literatur ignorierten, von Erich Mühsam über Heinrich Mann bis zu Friedrich Wolf oder Franz Jung, linke Publikationen wie «Linkskurve» oder « AIZ » bis weit ins Ende der sechziger Jahre unbekannt blieben, filterten die DDR -Verlage durch ein feines Sieb: Wenn Erich Mühsam (rasch auch wieder verboten), dann eine kleine Auswahl; wenn Marx, dann nicht die Frühschriften; wenn Tucholsky, dann um Stalins willen nicht der ganze. Ich selber, bis 1958 im Ostberliner Verlag Volk und Welt, seit 1960 bei Rowohlt tätig, wüßte Dutzende von Anekdoten: von der Ente, die in einem Gedicht nicht «westwärts» schwimmen durfte – um die Veröffentlichung zu retten, ließ der ängstliche Korrektor sie «ostwärts» schwimmen: Es war ein Druckfehler, das Tier sollte «nestwärts» schwimmen; oder von dem Schwein in einer Erzählung über trunkene Kombinatsarbeiter, die es nächtens dem Wodka spendierenden Wirt klauten, es schlachteten und verzehrten, was aber klassenbewußte Arbeiter nicht tun, weswegen in der Druckfassung ein Huhn geschlachtet wurde. Für die langen Messer der Schere, nun nicht mehr anekdotisch, ist dieser Vorgang symptomatisch: Als ich bei Volk und Welt Kurt Tucholskys «Deutschland Deutschland über alles» verlegen wollte, ein Blindband mit John Heartfields schönem Umschlag lag zum Wohlgefallen der Besucherin Mary Tucholsky schon auf der Leipziger Messe, griff in letzter Minute die Zensur ein – man hatte den Aufsatz «Der Kriegsschauplatz» entdeckt, der von der heimlichen Aufrüstung der Reichswehr in der Sowjetunion handelt. Das durfte so wenig sein wie ein Foto von Trotzki neben Lenin auf historischen Aufnahmen. Der Blindband gehört heute zu den Prunkstücken des Kurt-Tucholsky-Archivs. Als ich zehn Jahre später das Buch bei Rowohlt verlegen wollte, weigerten sich die Mitgeschäftsführer, den Vertrag für «das antideutsche Buch» zu unterschreiben. Es erschien 1964 . Figaro hier, Figaro dort …
    Kein Majakowski im Westen (der im Osten gewissermaßen noch lebte; denn umgebracht durfte er sich nicht haben) – kein Faulkner im Osten; keine Virginia Woolf im Osten – keine Anna Seghers im Westen; als der dickköpfige Helmut Kindler Ilja Ehrenburgs Memoiren verlegte, gab es Skandal und Boykott – im Osten waren die frühen Romane verboten. Die Wippe schwankte und schaukelte, und hier flog Neruda herunter und dort kam Rimbaud nicht rauf. Der westdeutsche Literaturwissenschaftler Jost Hermand berichtet, daß ihm – nach abgeschlossenem Germanistikstudium in Marburg 1955  – Autoren wie Brecht, Arnold Zweig, Anna Seghers gänzlich unbekannt waren; im selben Jahr, Mai 1955 , bittet Hans Erich Nossack in einem Brief an Peter Huchel, doch Joseph Breitbach – «er verfügt über einen untrüglichen, ganz undogmatischen Sinn für Niveau und Qualität» – nach Paris «Sinn und Form» zu schicken, das «ihm dort nicht zugänglich» ist.
    Prosa als Fahrkarte ins Gefängnis
    Noch

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