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Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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der klassischen deutschen Literatur bewegte als auch ganze Homer-Passagen auswendig aufsagen konnte oder Horaz-Gedichte oder Shakespeare-Szenen.
    Sozialistischer Feudalismus
    Gerade weil er über diesen enormen Schatz an Bildung verfügte, begriff er die dialektischen Abläufe von Geschichte jenseits der gerade aktuell benutzten – oder mißbrauchten – Klischees. Deshalb verwahrte er sich energisch: «Der Hanswurst kann nicht mit mir noch mit einer anderen Figur identifiziert werden. Er ist eine Figur, die Späße macht.» Girnus kam auf den Punkt: «Ich finde, wir müssen die Frage konkret stellen. Einen Aspekt haben wir nämlich noch nicht diskutiert, das ist die Frage: inwiefern entspricht der ‹Johann Faustus› den Prinzipien des sozialistischen Realismus? Das ist hier überhaupt noch nicht grundlegend diskutiert worden. Wenn ich Eisler richtig verstehe, steht er prinzipiell auf dem Boden des sozialistischen Realismus.» Eislers «Selbstverständlich! Aber es ist eine Oper, und ich kenne noch keine Prinzipien für eine sozialistisch realistische Oper» war, wenn nicht mutig, dann zumindest frech. Damit verteidigte Eisler nicht mehr bloß seinen Text, sondern er stellte auch dekretierte Normen in Frage. So nahm die denkwürdige Akademietagung rasch Züge des Tribunals an, als zum Beispiel der Redakteur Walter Besenbruch das tat, was man damals in der DDR «die Gebetsmühle des Parteikauderwelsch drehen» nannte: «Wir können dadurch, daß wir im Dreck wühlen, nur im Dreck wühlen, die erzieherische Wirkung nicht erzielen, die wir heute brauchen, wo es gilt, dem deutschen Volke Mut und Kraft einzuflößen, indem wir es lehren, sich auf die positiven Kräfte in seiner Geschichte zu besinnen.» Interessanterweise provozierte das einen der beiden heftigen Ausbrüche Brechts auf dieser Tagung: «Das geht nicht. Nehmen Sie Kenntnis von meinem sofortigen Protest! Ich bitte, diesen meinen Protest zu Protokoll zu nehmen. Das ist immer gesagt worden, wenn irgendwo etwas Schlechtes aufgedeckt wurde. Freude am Wühlen im Dreck.»
    Brechts zweiter Ausbruch hatte unmittelbar mit der eigenen Arbeit zu tun. Erst kurz zuvor war ja die Urfaust-Inszenierung des Berliner Ensembles heftig kritisiert und schließlich von Brecht zurückgezogen worden. Einer der profiliertesten Theaterkritiker war damals Jürgen Rühle, der – Feuilletonchef der «Berliner Zeitung» – regelmäßig in der einflußreichen Wochenzeitung «Sonntag» publizierte und in jenen Jahren (bevor er nach Westdeutschland übersiedelte) Brechts Theaterarbeit kontinuierlich mit scharfer Kritik verfolgte. Die Tagebücher von Brecht geben Auskunft darüber, wie sehr er sich darüber erboste. Rühle hatte augenscheinlich genau begriffen, daß mit dem Fall Eisler/Faustus hier auch der Fall Brecht/Urfaust zur Verhandlung stand, und er schlug vor: «Ich bin der Meinung, die Diskussion geht jetzt nicht mehr nur um diesen Entwurf zur National-Oper ‹Faustus›. Deshalb bin ich dafür, daß wir auch die ‹Urfaust›-Inszenierung des Berliner Ensemble in die Diskussion einbeziehen.» Brecht verwahrte sich streng: «Das kann man nicht! Sie war nicht fertig und ist ausdrücklich von mir zurückgezogen worden. Sie steht also nicht zur Diskussion!» Die Bizarrerie will es aber, daß Jürgen Rühle – der später in der Bundesrepublik mit seinen Büchern und Fernsehdokumentationen zu einem der aggressivsten Kritiker der DDR wurde – Sukkurs erhielt von der Repräsentantin jenes «Zentralorgans», das ihm schon damals fürchterlich war: von Johanna Rudolph, Theaterkritikerin des «Neuen Deutschland»; und daß es bei der «Urfaust»-Inszenierung am Berliner Ensemble um die Arbeit eines der begabtesten Brecht-Schüler ging, Egon Monk, der ebenfalls die DDR verließ, kurzfristig Intendant des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg wurde, wo er heute als gefeierter Fernsehfilmautor lebt. Johanna Rudolph griff nicht nur Brechts Theater an, sondern auch wesentlich seinen verhängnisvollen Einfluß auf seine Schüler. Gegen Brechts Verwahrung wetterte sie:
    Das kann ja wohl nicht einer alleine entscheiden. Ich bin vollkommen anderer Meinung. Schließlich geht es hier um unsere Auseinandersetzung mit dem klassischen Erbe, um unseren Umgang mit der deutschen Klassik. Und da sehe ich durchaus Zusammenhänge zwischen der hier bisher erörterten Fehlkonzeption des Faust als Zentralgestalt der deutschen Misere und der Erklärung des Berliner Ensembles im Programmheft: «Es ist

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