Stahlstiche
die kannte ich doch noch von früher, die Leute!
Die brachten mir Säcke gegen die Fliegen doch,
Schenkten mir altes Brot und ermahnten noch
Meinen Kutscher, sanft mit mir umzugehen.
Einst mir freundlich und mir so feindlich heute!
Plötzlich waren sie wie ausgewechselt! Ach,
was war mit ihnen geschehen?
Da fragte ich mich: was für eine Kälte
Muß über die Leute gekommen sein!
Wer schlägt da so auf sie ein,
Daß sie jetzt so durch und durch erkaltet?
So helft ihnen doch! Und tut es in Bälde!
Sonst passiert euch etwas, was ihr
nicht für möglich haltet!
Es ist der grandiose Umschlag individueller Liebesverkümmerung in ein Menetekel gesellschaftlicher Grausamkeit.
Doch hatte ich nicht auch von der Schönen mit der kalten Schulter gesprochen? Hat nicht Goethe mit dem «Werther» den ersten Liebes-Selbstmörder-Bestseller geschrieben? Und am Ende seines Lebens die «Marienbader Elegie»? War das nicht rein privater Liebesverlust? Ich behaupte: nein. Wir stehen ja heute vor einer Art elektronischem Trümmerhaufen differenzierter Wahrnehmung. Zur Kenntnis genommen werden Fakten, die man für Informationen hält. Das hieße dann in der entsprechenden Suchmaschine «Alter Mann liebt junges Mädchen»; eine kurz getwitterte Nachricht. Doch den Subtext jener Marienbader Elendslust erfaßt man so nicht. Mag sein, daß das Blitzgewitter beim Presseauftritt einer Filmdiva «stroboskopisch» ist. Licht in das Dunkel des unauflöslichen Magmas, in dem des Menschen Seele bebt, bringt solch Hurtigkeitsunsinn nicht. Es sind sehr feine Rinnsale, sie gleichen dem haardünnen Aderwerk eines Blattes, in die sich das Lüsterne zum Laster verzweigt, das zur Last werden kann. Und doch auf immerdar hofft, erhört zu werden: Liebe und Echo auf das Werk, das ja die Liebe gezeugt. Auch dieses Seufzen kannte Goethe:
Sie lassen mich alle grüßen
Und hassen mich bis in Tod.
Was ich am Beispiel Wunderlich und am Markt-Hype um Damien Hirst deutlich zu machen suchte – daß Unterschiede kaum mehr wahrgenommen werden, daß kommerzielle Strategien ästhetische Werte vernichten – das trifft ganz deutlich auch auf das Rezipieren von Literatur zu. Der junge «Werther» nämlich – sofern man des Lesens ohne die Lippen zu bewegen noch mächtig ist – hat sich durchaus nicht nur aus Liebeskummer umgebracht, sondern zumindest ebenbürtig diesem Intim-Refus war die Zurückweisung durch den Fürsten. Der alte Goethe wiederum, liest man genau, hüllt sich wegen der Abweisung durch die junge Ulrike von Levetzow keineswegs nur in den Tränenmantel eines greisen Fauns: Das Nein des kleinen Gänschens war immerhin auch das Nein, das einem Großen, in dieser Welt Bedeutenden, gar Mächtigen entgegenschallte. Daher ja der innere Rhythmus dieser Elegie, die nämlich von Hufschlag zu Hufschlag des Kutschpferdes auch Erleichterung intoniert: Eine Gefahr war überstanden. Es braucht allerdings einen Goethe, um so zartes Gewebe aus Sehnsucht, Wehmut, Begehren und Erlösung zu spinnen.
Nun bin ich fern! der jetzigen Minute
Was ziemt denn der? Ich wüsst es nicht zu sagen.
Sie bietet mir zum Schoenen manches Gute,
Das lastet nur, ich muß mich ihm entschlagen.
Mich treibt umher ein unbezwinglich Sehnen,
Da bleibt kein Rath als graenzenlose Thraenen.
…
Verlasst mich hier, getreue Weggenossen!
Lasst mich allein am Fels, in Moor und Moos;
Nur immer zu! euch ist die Welt erschlossen,
Die Erde weit, der Himmel hehr und groß;
Betrachtet, forscht, die Einzelheiten sammelt,
Naturgeheimnis werde nachgestammelt –
Mir ist das All, ich bin mir selbst verlohren,
Der ich noch erst den Göttern Liebling war
Sie prüften mich, verliehen mir Pandoren,
So reich an Gütern, reicher an Gefahr;
Sie drängten mich zum gabesel’gen Munde,
Sie trennen mich und richten mich zu Grunde.
Deutlichere Bilder bietet die Literatur zuhauf. Thomas Manns berühmter alter Gelehrter Gustav Aschenbach stirbt am Pesthauch der vergifteten Lagunenstadt seinen «Tod in Venedig», weil sein fiebriges Verlangen nach dem schönen Knaben Tadzio unerfüllt bleiben muß: Berührungsverbot. Versteht man nun unter «Gesellschaft» nicht lediglich Präsidentenwahl, Finanzkrise oder Lohnstreik – also den politischen Alltag –, sondern im Sinne der klassischen Antike die
politeia;
also das große Ineinander von Ursache, Wirkung, Hellsicht und Verblendung; jene schön-schaurige Ganzheit, die den Menschen ausmacht in seiner Furcht wie Ehrfurcht, in
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