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Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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seinem nie endenden Drang nach Bindung und Erlösung, angenagt vom Zweifel, von der Verzweiflung oft – dann begreift man, wie leicht durch gesellschaftliche Verwerfungen auch das Intimste zerrüttet werden kann. Sexualität findet ja im Kopfe statt.
    Es gibt ein erschütterndes Beispiel für die Widerläufigkeit von Denken und Begehren. Der jüdische Komponist Gustav Mahler – angefeindet wegen seines Judentums selbst als Direktor der Wiener Hofoper – versagte im Bett, als er zum ersten Mal seiner schönen Verlobten Alma beiwohnen wollte; sie hat das geschildert: «Er gab mir seinen Leib zur Verfügung – u. ich ließ seine Hand gewähren. Steif und in aller Pracht stand sein Leben. Er brachte mich zum Sopha, legte mich liebreich hin und schwang sich über mich. Da – im Moment, wo ich ihn eingehen fühlte, verlor er alle Kraft. Erschlagen lag er an meinem Herzen – er weinte fast vor Scham.» Es war keine «erektile Dysfunktion», wie Mediziner so etwas nennen. Es war eine Seelenkammer, die sich geöffnet hatte – die Frau war eine aggressive Antisemitin. Er wollte sich darreichen, doch die Bindung riß; im Lateinischen heißt Bindung
religio.
Bald hieß die Dame zwar Alma Mahler, wurde 1911 die wohlhabende Witwe des in Wien mit fünfzig Jahren verstorbenen Genies; seine wahre Existenz hat sie nie erkannt, sein
inner Sanctum
nie betreten: Sie verabscheute seine Musik. Es blieb ein Paar, das sich mit auf dem Rücken verschränkten Händen umarmte.
    Liebe ist eine zage Gabe. Dargeboten in zitternder Hoffnung von Künstlern – mögen sie Wunderlich heißen, Goethe oder Mahler – eingeschmolzen in ihr Werk. Wer das nicht erkennt, kann den Schöpfer auch nicht erkennen im biblischen Sinne.
    « NEXUS », 61 /Oktober 2012

Kassiber
    Ein Vortrag
    Hans Mayer – in diesen heiligen Hallen kein ganz Unbekannter – pflegte manche seiner Vorträge mit der Rochade zu eröffnen «Man ist Literaturwissenschaftler, oder man ist es nicht».
    Folgsam beginne ich also mit einer strengen Begriffsbestimmung. Das aus dem Hebräischen
Kathab
gleich «schreiben» abgeleitete
Kethibha
bedeutet «Geschriebenes» und steht in diversen etymologischen Varianten (etwa
Kasife, Kassiwer
) sehr bald für Paß, Ausweis, heimliche Briefe. «Heimlich» bedeutet, daß es sich um unerlaubt geschmuggelte Mitteilungen von Häftlingen handelt. Wichtig für meine folgenden Überlegungen ist dabei: Mitteilung an einen anderen Häftling oder Mitteilung an Außenstehende.
    Also großer Sprung voran. Ich behaupte, daß die gräßlich mit dem eigenen Blut in den Spiegel geschriebenen Abschiedsverse von Sergej Jessenin, der sich 1925 durch Selbstmord den stalinistischen Häschern entzog, ein Kassiber waren. Sie enden mit den Zeilen:
    Sterben ist nicht neu in diesem Leben,
    doch auch leben ist nicht grade neu.
    Es ist natürlich kein Zufall, daß es der rivalisierende Kollege Majakowski war, der aufschrie: «Gegen dieses Gedicht konnte nur mit einem Gedicht vorgegangen werden, nur mit einem Gedicht.» Das tat er. Er tat aber auch etwas anderes. Er erschoß sich aus denselben Gründen fünf Jahre später. Übrigens mit derselben Pistole, die er einst revolutionär – «Vorwärts, Genosse Mauser» – besungen hatte. Und verabschiedete sich – womit? Mit einem Gedicht.
    Wie man so sagt –
    «der Fall ist jetzt erledigt»,
    das Liebesboot
    ist an der Welt zerschellt.
    Doch wie hieß das Gedicht? «An Alle». So hatte Lenins Triumphtelegramm gelautet, mit dem er der Welt die gelungene Revolution 1917 verkündet hatte.
    «An Alle!», das war gleichsam die grausige Spiegelschrift, Kassiber aus einem Riesenzuchthaus, des Dichters Jessenin gewesen; «An Alle!» – das war die entsetzliche Antwort des Revolutionssängers Majakowski. Sie hatten einander Echo-Kassiber zugesteckt; und sie gellend einer sich dumpf gebenden Welt zugestellt. Nicht erwähnt habe ich in meinen zwei Eingangssätzen, daß das alte Wort «Kasife» auch «amtliche Papiere» bezeichnet. Wahrlich, die beiden an- und ausgedeuteten Gedichte sind «amtliche Papiere». Sie waren nicht leise geschmuggelt, sie waren geschrien.
    Geschmuggelt indes waren die letzten Gedichte des 1958 gestorbenen DDR -Kulturministers Johannes R. Becher, als junger Star des frühen Insel Verlages hochgelobt zum Beispiel von Harry Graf Kessler, nach vielen Konversionen kommunistischer Exilant in Moskau – und zunehmend enttäuscht in der DDR , so verbittert, daß er sich Ehrungen und

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