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Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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Beerdigungszeremonien testamentarisch verbat. Er, der zeitlebens pompös Gefeierte, Nationalpreisträger und Morphinist, Politbüro-Mitglied mit eigenem in Westberlin zugelassenem Wagen für die Strichjungen vom Savignyplatz: Er hatte den Weihrauch der Funktionäre als Stickluft erkannt. Kurz vor seinem Tod hatte er seiner Frau Lilly Aufzeichnungen übergeben, die sie – so rasend dreht sich das Rad Geschichte – mit Hilfe der sowjetischen Wissenschaftlerin Tamara Motylova vor einem Mielke-Zugriff heimlich nach Moskau schaffte. Der frühere Katholik legte die Beichte ab über vergiftete Selbstumarmung:
    Ein Dichter war ich wohl
    doch schon früh verderbt schrieb ich nur das Genehme …
    Wollen wir das getrost, doch ungetröstet, Kassiber nennen. Einer von Bechers Nachfahren, der 1933 geborene Lyriker Reiner Kunze, schrieb dann so traurig wie präzise die, wie er es nannte, «Sechs Variationen über das Thema ‹die Post›»:
    Auch die Briefe, die wir
    schweigen, werden
    durchleuchtet
    um fortzufahren:
    Nackt
    ließen sie ihn stehn
    im scheinwerferkegel, meinend
     
    entblößt zu haben
    den menschen.
    Das Buch durfte in der DDR nicht erscheinen. Es fiel nicht aus den vergitterten Fenstern auf das Pflaster der Arbeiter.
    Am anderen Ende der Welt, wo unsereins lauter Audrey Hepburns in weißen Cadillacs spazierenfahren wähnte, übertönten jedoch auch Polizeisirenen die Stimme der Dichtung. Als 1947 der damals 21 jährige Allen Ginsberg sein großes Poem «Howl» schrieb, war es in USA nicht publizierbar. Es dauerte lange, bis «Das Geheul» Gehör fand, als ein couragierter New Yorker Verleger in der Nummer eins seiner Avantgarde-Zeitschrift es abdruckte. Hören Sie ein paar Zeilen von dem, was ich ein blasphemisches Gebet nenne, rasend in seinem Menschenmitleid, obszön in seiner Güte.
    Ich sah die besten Köpfe meiner Generation zerstört vom Wahnsinn, hungrig hysterisch nackt,
    wie sie im Morgengrauen sich durch die Negerstraßen schleppten auf der Suche nach einer wütenden Spritze.
    Hipster mit Engelsköpfen, süchtig nach dem alten himmlischen Kontakt zum Sterndynamo in der Maschinerie der Nacht,
    die armselig und abgerissen und hohläugig und high wach
    hockten und rauchten im übernatürlichen Dunkel von
    Altbauwohnungen, in Jazz-Meditation schwebend über dem Häusermeer der Städte,
    die dem Himmel ihre Hirne entblößten unter der Hochbahn und mohammedanische Engel taumeln sahen auf Mietskasernendächern in Strömen von Licht,
    die durch Universitäten gingen mit verklärten wissenden Augen und Halluzinationen hatten von Arkansas und mystischen Blake-Tragödien zwischen den Scholaren des Kriegs,
    die von den Akademien relegiert wurden als Irre und weil sie obszöne Oden kritzelten auf die Fenster des Totenschädels …
    Hören, sagte ich: Wenn einer von Ihnen Zeit dazu hat, möge er sich die Schallplatte/ CD besorgen, auf der Allen Ginsberg selber seine große Wehklage spricht; er wird dann besser, als ich es vermitteln kann, verstehen, daß wir es mit einem Palimpsest zu tun haben, einer Schrift über der versteckten Notenschrift eines Chorals.
    Vom schallenden Geflüster der Literatur zum Wispern der Eingesperrten. Da muß, so peinlich es anfangs klingen mag und so exemplarisch es dann doch ist, von mir die Rede sein; von autobiographischen Erfahrungen. Ich war sehr jung, noch keine zwanzig, da verlegten wir im Ostberliner Verlag Volk und Welt (dessen Stellvertretender Cheflektor ich später wurde) das Buch «Die letzten Stunden» von Harald Poelchau. Er war der Anstaltsgeistliche gewesen, der die von den Nazi-Schergen ermordeten Männer des 20 . Juli in den Tod begleitet hat. Und zuvor Dutzende Kassiber für deren Angehörige unterm Talar herausschmuggelte. So zum Beispiel die geheimen Briefe, die Helmuth und Freya von Moltke einander schreiben konnten, von September 1944 bis Januar 1945 an den Wachen im Gefängnis Tegel unter Einsatz seines Lebens vorbei. Ich mochte ihn, als wäre er mein väterlicher Freund. Indes er aber der wirklich enge Freund meines Vormunds und Pflegevaters war – ein damals knapp 30 jähriger Pastor aus dem protestantischen Widerstand; gläubiger Christ – auch mein Religionslehrer –, Marxist, Jungkommunist. Es gab ungerade Lebensläufe in der Nachkriegszeit, Sprachbanalitäten à la «zielführend» oder «nachhaltig» noch nicht. Die Absurdität jener Zeit wollte es, daß dieser Pastor Hans-Joachim Mund, mein Vormund, eine Art Nachfolger seines Freundes

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