Stahlstiche
Poelchau wurde, der ihm bei seinem schweren Entschluß zur Seite stand, ihn beriet, ihm Hilfe bot. Der schwere Entschluß: In einem inoffiziellen Konkordat hatten sich die Leitung der protestantischen Kirche
in persona
des Propstes Grüber und das Politbüro der SED darauf geeinigt, daß ein Geistlicher sämtliche politischen Haftanstalten der DDR (nach meiner Erinnerung 15 ) besuchen, dort Gottesdienste feiern und – der wesentliche Vertragspunkt – unbeaufsichtigte Sprechstunden für Häftlinge abhalten durfte. Es gab im ganzen Lande nur eine einzige Person, auf die man sich einigen konnte: den kommunistischen Pastor Mund, Mitarbeiter gar des ZK der SED (mit Sonderausweis, der ihm das Nacktbaden mit seinem Mündel an der Ostsee erlaubte), schließlich hoher Offizier der Volkspolizei ohne Uniformzwang, aber mit entsprechenden Papieren. Dieser Mann hat schier Unermeßliches auf sich genommen, geleistet.
Das fing mit scheinbaren Banalitäten an, einer in der Sprechstunde geschälten Orange (etwas, das die oft schwerkranken Häftlinge nie je gesehen hatten), die er dann wie zufällig mit der Bibel über den Tisch schob – bis, ja eben, bis zu den Kassibern, Hunderte von mit rostigen Nägeln beschriebenen Zetteln, Papierfetzen voller Krakel, die ein abgebrochener Fingernagel, getränkt mit Läuseblut, «geschrieben» hatte. Die Gefangenen werden wohl nicht gewußt haben, daß mehr als zwei Jahrhunderte vor ihnen ein anderer Insasse versteckte Papiere mit Lichtputzschere, dem Dorn einer Kleiderschnalle oder Gabel beschrieben hatte: Christian Friedrich Daniel Schubart, eingesperrt auf dem Hohenasperg. Von ihm, unzähligen anderen Geschundenen und ihrem Schicksal in Finsternissen gibt die schlechterdings großartige Ausstellung Zeugnis, die heute zu eröffnen ich die Ehre habe.
Auch indem ich Zeugnis von jenen in den tuberkuloseverseuchten Karzern ablege, von den Verschwundenen spreche, die ein sozialistisch sich nennender Staat zermalmte. Nur wenig Hilfe konnte man ihnen angedeihen lassen. So hatte sich Anfang der 50 er Jahre in Westberlin – dorthin konnte ich ungehindert mit S- oder U-Bahn fahren – ein Ring von Helfern gebildet, an der Spitze stand Margarethe Lachmund, die Chefin der Quäker. Sie besorgte die Orangen, die Schokolade, die Zigaretten (die sich der Kommunistenpfaffe, selber Nichtraucher, in der Sprechstunde anzündete, um sie dann «aus Versehen» auf dem Tisch liegenzulassen) – und sie kümmerte sich um jenes «Thema ‹die Post›», die Briefträger FJR nach Zehlendorf gebracht hatte.
Manchmal ging das auch schief. Als ich bei einem Hamburg-Besuch an der Tür der vor kurzem aus der Haft entlassenen Mutter von Kempowski klingelte und sagte «Ich bringe einen Brief Ihres Sohnes aus Bautzen» (wo Walter Kempowski einsaß), ließ sie mich nicht ein – sie hielt mich für einen Stasi-Spitzel.
Walter Kempowski saß in Bautzen mal im Verhör-Eiskeller, mal in Einzelhaft – dann wurde er Chorleiter für die Gefangenengottesdienste von Pastor Mund.
Das aufschreiende nächtliche Erwachen des bald nicht mehr kommunistischen ZK -Pastors, sein Umsichschlagen, schweißnaß, sein stundenlanges Schweigen und dann das Hervorbrechen von Horrorberichten (die hier nicht mehr hingehören), habe ich nie vergessen. Da ich ihn auf vielen dieser Schreckensreisen begleitete, bis spätabends auf die Rückkehr eines Schreckgespensts gewartet habe, Mündel und Lebenspartner, bin ich Mahner des Nicht-Vergessens. So, wie ich viele Jahre seinen winzigen Talisman gehütet habe. Das war ein kleines Kreuz, gebastelt aus Haaren, Draht, einigen wenigen Holzsplittern – daran hing ein ganz kleiner Jesus, der war mal ein Löffelstiel gewesen. Das hatten ihm als Dank, aus Dankbarkeit Häftlinge nächtens zusammengeklebt; mit Sperma. Es war ihr Geschenk.
Darf ich das einen Kassiber nennen? Fast auch jenes Stück von der Kerkertür Voltaires, der 1717 als 23 Jähriger unschuldig elf Monate lang in der berüchtigten Bastille inhaftiert war? Schubart soll sie – er starb 1791 , vier Jahre zuvor freigelassen – noch als Souvenir an das am 14 . Juli 1789 erstürmte Pariser Stadtgefängnis erhalten haben.
Was also ist ein Kassiber?
Er ist Notruf und – falls erhalten – Zeugnis, das uns zum Erinnern zwingt. Die Gebildeten unter meinen Verächtern hier im Saal, die Mehrzahl also, kennen die zwei Eingangssätze, mit denen Thomas Mann sein machtvolles Gedächtnis-Epos, die Joseph-Romane, einstimmt: «Tief ist der
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