Stahlstiche
Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?»
Nein, wir sollen «gründeln», forschen, tief nach Brunnen und versiegten Quellen suchen. So denke ich, daß nicht zuletzt auch Briefe Kassiber sind, «Ausweispapiere», um noch einmal die Etymologie zu strapazieren, wie das eingedeutschte hebräische
Kasife
auch verstanden sein will. Ausweise oft einer inneren, subjektiven, tief existentiellen Verzweiflung; der Schreiber solcher Briefe weist sie aus – im Sinne einer Ausstülpung. Auch, wenn diese Briefe nicht durch Gitter geschoben, sondern zur Post gegeben werden.
Pars pro toto
erinnere ich an die glanzvoll-gräßlichen, hoffärtig-verzweifelten Briefe von Joseph Roth an Stefan Zweig, der emigrierte Jude an den Juden im Exil. Im Jiddischen hat das Wort «Elend» auch die Bedeutung «Fremde». So haben wir diese Zeugnisse des Elends aus der Fremde zu lesen; Geheimschrift eines unerbittlich in sich und seine Überzeugungen Eingekerkerten. Zu bitten (um Rat, um Hilfe, um Geld) wußte Joseph Roth sehr wohl. «Bittlich» war er nicht.
Tief berührend auch die seltsam friedlichen Briefe des liebevoll um seine beiden Kinder (denen er aus Plötzensee schreibt) besorgten Vaters, des jüdischen Architekten Pali Meller – mal sogar die Grammatikfehler der Kleinen korrigierend, mal Märchen erzählend wie eine Streicheleinheit und mal, einen Tag vor Silvester 1942 , gleichsam von sich selber Abschied nehmend: «Ich kann stündlich hier abgerufen werden ins Ungewisse. Aber ich kenne keine Angst.» 1943 verreckt der wegen «Rassenschande» zu sechs Jahren Zuchthaus Verurteilte im Zuchthaus Brandenburg; zuvor geht noch dieser Gruß an die 11 und 7 Jahre alten Kinder Paul und Barbara: «Bald habe ich Geburtstag und werde keinen Gutenmorgenkuß von Euch haben. Aber geschenkt wird nichts! Heb ihn mir gut auf – eines Tages komme ich und hole mir alle versäumten Küsse … Bis dahin bleibt es bei Papierküssen – und davon schickt Dir diesmal 365 Stück Dein Dich liebender Papa.»
Die Geschichte eines anderen Brief-Konvoluts, fast – da Jahrzehnte unpubliziert – könnte man von einem Samisdat sprechen – ist zumindest bizarr; wenn nicht auf der Kippe zur Katastrophe, als die Walter Benjamin den Lauf der Geschichte sah.
Kurt Tucholsky, seit 1929 in Schweden lebend und trotz der Scheidung 1933 mit Mary Tucholsky weiter in Briefkontakt (die Scheidung geschah einvernehmlich zum Schutze der Frau, die mit diesem Namen in Berlin wohnend extrem gefährdet war; Tucholsky galt den Nazis als Staatsfeind Nummer 1 ), schrieb ihr kontinuierlich, gar um politischen Rat bittend. Ich erspare Ihnen und mir heute abend eine Analyse jenes erschütternden Abschiedsbriefes des Todgeweihten; Abschied von Mary, Abschied von der Welt. Der Text bräuchte einen eigenen Interpretations-Essay. Was ich erzählen will, ist ein Kassiber-Schicksal. Mary Gerold, wie sie sich nun nannte, blieb im Fokus der Gestapo. Vernehmungen, zwei Hausdurchsuchungen. Bei der ersten erschienen zwei SS -Männer. Als gründliche Deutsche durchwühlten sie Schreibtischfächer, Nachttisch-Schubladen, das Bett. Mary Gerold aber hatte sämtliche Briefe Tucholskys aufbewahrt. Sie lagen in ihrem Kleiderschrank. Als die schwarzen Herren den zu ihrem verzweifelten Entsetzen öffneten, reckte die große blonde Baltin sich auf und herrschte die Satrapen an: «Sie wollen doch wohl nicht in der Wäsche einer Dame wühlen?» Bizarr sagte ich eben? Tatsächlich bekamen die Wühler rote Köpfe. Sie machten den Kleiderschrank wieder zu.
Als ich Jahrzehnte später nach langem Kampf (Mary wollte nach dem Motto «Das ist privat, das geht niemanden etwas an» die Briefe verbrennen) – etwa 1960 – die Originale aus ihrem Rottacher Knusperhäuschen in meinen VW packte, habe ich diese stolze und oft auch harte Frau das einzige Mal weinen sehen. Und als ich auf dem Münchner Hauptbahnhof zum Schlafwagen ging, neben mir der Dienstmann mit der Karre, auf der dieser Koffer voller Leben lag, das Leben zweier Menschen und das Leben der ganzen Weimarer Republik: da, ich schäme mich nicht, schossen auch mir die Tränen in die Augen. Ich transportierte mehrere hundert Kassiber.
Nun ein kleines Atemholen.
Ich weiß ja, wo ich bin: im Süden Deutschlands, dort also, wo man auch den Genüssen des Lebens zugeneigt ist. In Frankreich ist es üblich, bei längeren Diners nach einem eher schweren Hauptgang zur bekömmlichen Erleichterung ein Sorbet zu servieren,
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