Stahlstiche
es kitzelt den Gaumen und weckt die Neugier auf das nächste Gericht. Lassen Sie mich für einen kurzen Moment nach Frankreich schweifen und Ihnen ein Sorbet servieren.
Madame Pompadour geht in den Tuilerien-Gärten spazieren. Es folgt ihr ein strammer Grenadier. Der gibt ihr einen kräftigen Klaps auf den Popo. Der Grenadier wird eingesperrt. Er besticht einen Wärter. Die mächtige Mätresse erhält einen winzig gefalteten Zettel: «Madame, wenn Ihr Herz so hart ist wie Ihr Hintern – dann bin ich verloren.» Der zum Postillon avancierte Wächter bringt ein Billet in den Karzer: «Monsieur, wenn Ihr … so hart ist wie Ihre Hand – venez demain.» Sie sehen, meine Damen und Herren, es gibt auch frivole Kassiber, die zu einem – so darf man wohl annehmen – vergnüglichen Ende führen.
Es gibt – gleichwohl Erotisches vorführend – auch weniger Galantes zu erzählen. Zwölf Meter lang und elf Zentimeter breit ist die Papierrolle, auf die einer der berühmtesten Kassiber der Literaturgeschichte geschrieben worden ist: «Die 120 Tage von Sodom», die Geschichte von vier Libertins, die 120 Tage lang die unterschiedlichsten Sexualpraktiken mit unterschiedlichsten Partnern ausprobieren; darunter ihre Töchter. Der Autor hieß Marquis de Sade, 1772 zum Tode verurteilt, weil er angeblich zwei Prostituierte mit aphrodisierenden Bonbons zum Analverkehr gezwungen habe. Er saß nach mißglückter Flucht gen Italien seit 1777 in der Festung Vincennes, ab 1784 in der Bastille. Die Endlos-Rolle bekritzelt er auch von hinten, versteckt sie. Ungewiß bleibt, ob er durch das Rohr, mittels dessen er aus dem Fenster in den Festungsgraben urinieren mußte, auch Teile seiner «unanständigen Botschaft» retten konnte. Jedenfalls blieb die heute weltberühmte Schrift im Privatbesitz einer französischen Familie erhalten.
Mein Begreifen unseres Hauptworts indes ist nicht so ergötzlich. Ich sehe weniger ein Feuerwerk der Lustbarkeiten als vielmehr hochschießende Notraketen. Verquere Dialektik: Manchmal kommen die nicht
aus
Kerker, Zuchthaus, Folterlagern – sondern zielen
in
sie hinein. Sehr genau erinnere ich mich unseres unbedarften Erstaunens, als der frisch an die Humboldt-Universität berufene Professor Kantorowicz dem Studenten gefälschte gelbe Reclam-Hefte aus seinem Privatarchiv zeigte; da stand Goethe oder Schiller auf dem Umschlag, der innen gedruckte Text aber war jeweils eine Zusammenstellung antifaschistischer Pamphlete, die Emigranten in Paris verfaßt und auf diese Weise nach Deutschland hinein verschickt hatten. Unsere fabulöse Ausstellung zeigt unter der Rubrik «Maskiert» andere solcher Tarnschriften, die alliierte Flugzeuge im Krieg abgeworfen haben und die erst einmal durch Titel wie «Soldatenblätter für Feier und Freizeit» oder «Die Nähmaschine, ihre Behandlung und Reparatur» unverfänglich schienen – bis ein Leser dann Anti-Hitler-Reden von Thomas Mann oder ein Brecht-Gedicht darin entdecken konnte.
Keineswegs will ich es mißverstanden wissen als Höflichkeit gegenüber dem Ehrengast dieses Abends, meinem Kollegen Liao Yiwu, wenn ich hier sein Gedicht «Massaker» nenne: Das ist ja Mahnung wie Warnung in das Riesengefängnis China
hinein.
Dort wird es versteckt werden müssen wie einst eine tapfere Freundin des rumänischen Dichters Oskar Pastior dessen antisowjetische Lagergedichte versteckte; und durchaus wollen wir eingedenk bleiben seines Satzes «Mir ist die Sprache zerbrochen im Lager». Doch Sprache ist nicht nur das Geschriebene. Nun falle ich aus dem strengen Gesetz der Etymologie: Sprache ist auch das
gesprochen
Überlieferte;
oral history
nennt man den Ursprung aller Literatur. Was ich hier wiedergebe, ist der mündliche Bericht einer 1943 Zwölfjährigen über ihren jüdischen Vater und die nichtjüdische Mutter:
Meine Mutter hat um Papa gekämpft wie eine Tigerin, eine heulende und kreischende Kindertruppe eingesetzt. Ihr eigener Vater hatte dem Schwiegersohn und den Enkeln verboten, das Haus zu betreten, und als sie in Panik eine Nacht Unterschlupf für sich und ihren Sohn bei einer Cousine suchte, stellte deren Mann ihr die beiden Pappkoffer vor die Tür und schob sie samt meinem Bruder hinaus. Meine Mutter hat – als das Wort «Mischehen Rosenstraße weitersagen» durch eine Februarnacht des Jahres 1943 wisperte – mehrere hundert Frauen alarmiert und ist mit denen zu dem ehemaligen Haus der Jüdischen Gemeinde gezogen, zwischen Littenstraße und Spandauer
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