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Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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verlängerte Antwort auf die Realismus-Rezepte von Georg Lukács, zu dessen Studie «Marx und das Problem des ideologischen Verfalls» es verächtlich heißt: «die rede ist wieder von realismus, den sie jetzt glücklich so heruntergebracht haben wie die nazis den sozialismus.»
    Die literaturtheoretischen Überlegungen ziehen sich konsequent durch alle Eintragungen der beiden Jahrzehnte; keineswegs geht es Brecht in erster Linie um die individuelle Schwierigkeit, in mörderischen Zeiten Literatur herzustellen – eine kurze Notiz nur gibt solcher Nachdenklichkeit Raum: «daß solche kriege sein können und daß immer noch literarische arbeiten angefertigt werden können. der puntila geht mich fast nichts an, der krieg alles; über den puntila kann ich fast alles schreiben, über den krieg nichts. ich meine nicht nur ‹darf›, ich meine auch wirklich ‹kann›. es ist interessant, wie weit die literatur, als praxis, wegverlegt ist von den zentren der alles entscheidenden geschehnisse.»
    Dagegen ist das Nachdenken über die Begriffsabgrenzung Naturalismus/Realismus bis in die späte Nachkriegszeit beherrschend («der unterschied ist immer noch nicht geklärt», 30 .  3 .  1947 ), es wird das Schaudern vor der Pflichtkür sowjetischer Heldenliteratur unverhohlen ausgedrückt («noch einmal keine eigene klassik habend, werden nun wir die russische zu ‹verarbeiten› haben, denke ich schaudernd», 26 .  12 .  1947 ). Das deutsche Stanislawski-Buch ekelt Brecht an, wie ihn schon 1942 die naturalistische Schönfärberei gewisser sowjetischer Filme und Stücke frappiert hatte.
    Den Ton der Debatte sowjetischer literarischer Historiker empfindet er bereits 1938 als «erschreckend unproduktiv, gehässig, persönlich autoritär und servil zugleich». Aber Brecht hat keineswegs nur solche Abfertigungsgesten zur Verfügung; seine Auseinandersetzung mit Schdanow etwa ist ernst und nachdenklich, und seine Eintragung vom 2 . März 1948 erinnert in ihrer Knappheit und Brisanz zugleich an den berühmten Marx-Satz aus der Einleitung zur «Kritik der politischen Ökonomie», in dem von den Schwierigkeiten die Rede ist, zu verstehen, wieso denn griechische Kunst – geknüpft an gewisse gesellschaftliche Entwicklungsformen – für uns noch Kunstgenuß, Norm und Muster sei:
    zur frage, warum kunstwerke, entstanden in vergangenen
gesellschaftsstrukturen
, immer noch wirkungen auf uns ausüben: noch die klassenlose gesellschaft wird vermutlich die grundzüge der westlichen historischen strukturen im doppelsinn ‹aufgehoben› haben. wie der menschliche fötus die niedrigeren phasen durchläuft und aufhebt. interessant, wie der moderne bürgerkrieg etwa die sklavenheere ‹zurückbringt›! die hauptwirkungen scheinen sich zu konservieren, wo die hauptwendungen, entscheidungen, umwälzungen, katastrophen stattgefunden haben.
    Brechts Überlegungen sind Modelle für historisch-materialistisches Denken. Darum, beispielsweise, ist er in der Lage, eine ebenso glanzvolle wie einleuchtende, schlicht: richtige Einschätzung Hitlers zu geben (nachdem auch er ihn anfänglich kaum zur Kenntnis genommen hat). Endlich wird von einem Autor geleistet, was man generell vermißt von Karl Kraus bis zu Kurt Tucholsky: eine Klassenanalyse. Nicht mehr der Teppichbeißer, der toll gewordene Kommis, der «nach Hose riechende» Anstreicher Schicklgruber; endlich hat einer das Stück begriffen, das hier gespielt wird und nicht «Von Morgen bis Mitternacht» heißt:
    Ganz abgesehen davon, daß hitler mir als großer Mann durchaus willkommen ist, d.h. daß mir eine revision der bürgerlichen vorstellung von großem mann (also von bürgerlicher größe, von dem, was ein großer bürgerlicher politiker ist oder sein kann) akut zu sein scheint, weshalb ich ohne weiteres bereit bin, H( ITLER ) als großen bürgerlichen politiker zu behandeln … man bekämpft hitler nicht, wenn man ihn als besonders unfähig, als auswuchs, perversität, humbug, speziell pathologischen fall hinstellt und ihm die anderen bürgerlichen politiker als muster, unerreichte muster, vorhält; wie man ja auch den faschismus nicht bekämpfen kann, wenn man ihn vom «gesunden» bürgertum (reichswehr und industrie) isolieren und «allein» beseitigen will, würde man ihn goutieren, wenn er «groß» wäre?
    Brechts Klarsicht, auch über die «auswegloseste aller Klassen, das Kleinbürgertum», ist zugleich das Erarbeiten einer eigenen politischen Position. Hier ist die Quelle für

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