Stalingrad
…
Wißbegierig befrage ich Leute, die aus der Union kommen, was man zu Hause über Afghanistan, über Polen spricht. Sie zucken mit den Schultern. Die meisten sagen nichts. Sie wissen nichts. Rundfunksender werden gestört. Die Zeitungen lügen. Gerüchtweise sickert etwas durch. Hin und wieder stößt man auf eine Todesanzeige – »ums Leben gekommen bei der Erfüllung seiner Pflicht« … Dann wird manchem etwas klar. Im allgemeinen aber, beim Schlangestehen: »Die Amerikaner und die Chinesen wollten sich Afghanistan unter den Nagel reißen, unsre haben das nicht zugelassen … Und die Polen? Genauso wie die Tschechen damals. Was wollten sie noch? Leben besser, haben mehr zu essen als unsereins, dürfen ins Ausland fahren, aber nein, sie stellen sich bockbeinig. Der Hafer sticht sie …«
Das ist vielleicht das schlimmste. Wir unterschätzen die Stärke der sowjetischen Propaganda, die Magie des Zeitungswortes. Längst wird nichts mehr geglaubt, und trotzdem wickelt die Lüge die Leute ein, beherrscht ihr Fühlen und Denken. Und so glaubt der neunzehnjährige Wanka mit dem Sowjetstern an der Ohrenklappenmütze, daß die Amerikaner und die Schlitzäugigen es auf unsere Nachbarn abgesehen hatten. Dann aber, wenn ihm ein Licht aufgeht, tauscht er, böse und hungrig, seine MPi gegen Haschisch … Vorher schießt er damit. Und danach schießt er auch. Auf wen? Weiß der Kuckuck, wie soll er sich bei dem Hin und Her noch zurechtfinden? Wenn es mir befohlen wird, dann schieße ich …
Nein, so verhielt sich das bei uns nicht. Wir kannten unseren Feind, wir wußten, daß wir es mit einem grausamen und starken Feind zu tun hatten und daß nicht wir auf fremdes Land erpicht waren, sondern er. Und jener Wanka, in jenen Jahren, fror in den Schützengräben und ging zum Angriff vor, obwohl sein Vater vielleicht als Kulak enteignet worden war. Daß wir aber zwei Jahre zuvor selbst »fremdes« Land geschluckt hatten, das Baltikum, war ihm einfach entfallen, möglicherweise wußte er auch gar nichts davon. Er verteidigte sein Land.
In Afghanistan gibt es keine Kriegsgefangenen. Man bringt sie um. Auf beiden Seiten. Deshalb ergibt sich niemand. Durch unsere Hände sind in Stalingrad 330 000 Mann gegangen. Ich selbst hatte mit einigen hundert dieser »Ausflügler« zu tun. Natürlich wechselte eine gewisse Anzahl von Uhren, Füllfederhaltern und Fotoapparaten ihre Besitzer, doch an Familienalben mit blauäugigen Gretchen und respektablen Mamas und Papas vergriff sich in der Regel keiner. »Danke schön! Danke schön!« – und irgendwoher kam aus der Tiefe der Hose eine Uhr mit Kette zum Vorschein, die einem zum Geschenk gemacht wurde. (Ich trug sie noch lange nach dem Krieg – für einen sowjetischen Offizier war eine Uhr eine Seltenheit, von Fotoapparaten ganz zu schweigen.)
Drei Jahre später, in Deutschland, sah es anders aus. Ich bin nicht dort gewesen und kenne es nicht aus eigener Anschauung, ich habe darüber gelesen. Die aufwirbelnden Daunen verdunkelten die Sonne, die Frauen waren verschwunden. Wanka war in die »Höhle des Löwen« vorgedrungen. Stalin hatte unmißverständlich das Plündern erlaubt. Das Vorrecht der Sieger, geheiligt durch Jahrhunderte. Dann erging ein Befehl, Strafen wurden verhängt, sogar Erschießungen gab es.
Jetzt sitzt unser Wanka als Besatzer in den Ländern der Volksdemokratie (»Völker der Kuriosdemokratie« hat das jemand witzig genannt), er sitzt in der Kaserne, hat sich eingeigelt, wartet auf seinen Befehl. Die Offiziere saufen. In Afghanistan geht es auf besondere Art zu – darüber wird noch zu schreiben sein …
Doch das ist jetzt. Wie aber war es damals? Kehren wir in jene Schützengräben zurück, die von Stalingrad. Oft bekomme ich zu hören:
»Es heißt, Sie hätten das erste authentische Buch über den Krieg geschrieben. Haben Sie die ganze Wahrheit gesagt? Oder haben Sie etwas verborgen, etwas weggelassen? Wenn Sie sich jetzt, da Ihnen die Hände nicht mehr gebunden sind, an das Buch machten, würden Sie etwas anders darstellen?«
Ich fange von hinten an. Jetzt würde ich mich nicht daran machen. Solche Bücher schreibt man auf frischer Spur und in einem Atemzug. Ich habe nicht mehr als ein halbes Jahr dazu gebraucht. Es arbeitete sich leicht. Von den Anforderungen des sozialistischen Realismus – Wladimir Alexandrow hatte recht – war ich völlig unbeleckt. Ich machte mich darauf gefaßt, daß die Rückzugsszenen wenig Anklang finden würden. Das trat nicht ein,
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