Stalingrad
Winniza habe ich abgeklappert. »Das Geheimnis des Nesle-Turms«, »Das Glas Wasser«, »Die Bettler von Paris«, »Jenseits des Ozeans« – selbst an »Anna Karenina« wagten wir uns, eine peinliche Erinnerung. Dann folgten Wladiwostok, Kirow (das frühere Wjatka) – das waren wenigstens richtige Theater. Drittrangige Rollen. Ich verdiente mit Bühnenbildern dazu. Schrieb abends an irgendwelchem Zeug. Schickte es an Zeitschriften. Bekam es zurück. Zum Glück.
Mein letztes Theater war in Rostow am Don. Das Theater der Roten Armee. Von hier holte man mich zur Armee. In den Krieg.
Stalingrad. Donez. Verwundung. Lazarett in Baku. Die zweite Verwundung in Polen, in Lublin. Kiewer Bezirkslazarett. Die rechte Hand gelähmt, eine Kugel hatte den Nerv lädiert.
»Sie müssen die Finger der rechten Hand an kleine Bewegungen gewöhnen«, sagte der behandelnde Arzt, der Schpak hieß. »Haben Sie ein Mädchen? Dann schreiben Sie ihr täglich einen Brief. Aber nicht mit der Linken, sondern mit der Rechten. Eine gute Übung.«
Ein Mädchen hatte ich nicht, ich suchte mir ein Fleckchen an den Hängen des Parks, der vom Lazarett zum Roten Stadion abfiel, und schrieb über Stalingrad – alles war noch frisch.
An dem Tag, an dem ich fünfunddreißig wurde und die erste Hälfte (von heute gerechnet) meines Lebens zu Ende ging, war das Manuskript bereits im Satz. Änderungen hatte es fast keine gegeben, lediglich eine Schlußepisode mußte dazugeschrieben werden – »zur kompositorischen Abrundung«. Zuvor war meine sorgsam gehütete Mappe bei Twardowski gewesen (er empfahl das Manuskript der Zeitschrift), erhalten hatte er sie von Wladimir Alexandrow, dem bekannten Kritiker und Spaßvogel, der die ganze Zeit dafür Stimmung machte: »Ein einfacher Offizier, Frontsoldat, keine blasse Ahnung davon, was sozialistischer Realismus ist … Sie sollten es unbedingt lesen!«
Ja – keine blasse Ahnung! Remarque hatte ich gelesen, Hemingway natürlich – alle begeisterten sich damals für ihn –, davor Knut Hamsun, in meiner frühesten Jugend, was die Kriegsliteratur angeht, die »Sewastopoler Erzählungen«. Das war’s schon. Keine »Neunzehn«, kein Nikolai Ostrowski. Von Babel vielleicht noch etwas und von Ilf und Petrow.
Da kam der Krieg!
Damit sind wir bei dem wichtigsten Punkt angelangt, weshalb dieses Nachwort eigentlich geschrieben wird.
Die entsetzliche Schlächterei, die so viele Menschen das Leben kostete, die mit dem »treubrüchigen Überfall«, dem zehntägigen Schweigen Stalins – war er der Trunksucht verfallen oder der Depression? –, dem tragischen Rückzug und unbegreiflichen Verlusten begann, endete mit der roten Fahne auf dem Reichstag. Für meine gesamte Generation waren das Jahre des Umbruchs, der Prüfung. Für den ungebildeten Walega aus dem fernen Altai in gleichem Maße wie für den intelligenten Städter, der sich ohne sonderlichen Erfolg auf den Brettern des Theaters betätigte und kleine Erzählungen schrieb, die kein Mensch brauchte.
Der Dreißigjährige, der die Militärausbildung im Institut friedlich verschlafen hatte (Gespräch zwischen Farber und Kershenzew, untermalt durch die Fünfte Sinfonie Tschaikowskis), bekam, selbst noch ein grüner Junge, achtzig »taugliche unausgebildete« Bürschlein zugeteilt, um sie in der Kriegskunst zu unterweisen. Nachdem unser Reservepionierbataillon den Weg von Rostow bis zur Wolga zu Fuß zurückgelegt hatte, bezog es Position auf dem Steilufer des Flusses in dem heruntergekommenen Dörfchen Pitschuga und ging daran, sich mit Kolchosspaten in den Frostboden einzugraben. Keiner von uns Kommandeuren hatte je eine Mine, einen Detonator, einen Zünder oder eine Zündschnur zu Gesicht bekommen. Daß TNT wie Seife aussieht und Dynamit wie Gelee, mehr wußten wir nicht. Waffen hatten wir keine. Schießen konnten wir nicht. Den ganzen Winter über gab jeder Soldat auf dem Schießplatz einen einzigen Schuß ab – Patronen waren selbst an der Front knapp.
Im Frühjahr zweiundvierzig wurden die Soldaten zur Krim in Marsch gesetzt, wo sie dann ihr Leben ließen, die Kommandeure als Regimentspioniere an die Donez-Front. Waffen hatten wir nach wie vor keine. Aus der Staniza Serafimowitsch zog unser Schützenregiment (!) mit Knüppeln statt Gewehren über der Schulter los. Die Regimentsartillerie bestand aus Balken auf Fuhrwerksrädern. Im ganzen Regiment gab es nur zwei Ausbildungsgewehre – sie wurden feierlich zu beiden Seiten der Fahne, dem Heiligtum des
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