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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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so.
    Herbert unterbrach die allgemei ne Diskussion, indem er mit zitternder Hand auf einen Sanitäter wies, der sich mit einem frisch amputierten Bein den Weg durch die Verwundeten bahnte. »Da, mein Bein«, stammelte er mit fieberglänzenden Augen. »Das ist mein Bein …«
    »Bleib liegen!« Bubi versuchte, ihn zurückzudrücken, damit er das Bein nicht mehr sehen konnte.
    Herbert stieß ihn beiseite und richtete sich halb auf. »Mein Bein!«, rief er. »Gebt mir mein Bein, ich will mein Bein zurück!« Die Anstrengung brach seine Stimme. »Bitte«, weinte er, »ich will es, bitte …«
    Hans richtete sich auf. Warum sollte man ihm nicht seinen letzten Wunsch erfüllen? Sonst konnten sie ja doch nichts für ihn tun.
    Die anderen verfolgten ungläubig, wie er den Sanitäter aufhielt. Dieser zeigte ihm einen Vogel, wollte weiter, doch Hans steckte ihm zwei Zigaretten in die Brusttasche. Der Sanitäter zuckte mit den Schultern und überließ ihm das Bein. Hans kam damit an das Krankenlager zurück. Das Bein war sehr dünn, stark behaart, und der schwarz aufgequollene, erfrorene Fuß hing wie ein großer Klumpen an ihm.
    Herbert streckte die Arme aus. »Bitte!«
    Hans sah die Dankbarkeit in den Augen seines ehemaligen Mel ders und begriff, dass er ihm jetzt in der Logik des Fiebers das Bein zurückgab, das er ihm damals abgeschnitten hatte. Er kniete sich neben ihn und legte ihm das Bein in die Hände.
    Rollo schluckte und wandte s ich ab, um nicht zu kotzen. Herbert wiegte das Bein wie ein kleines Kind. Sein Blick verlor sich in der Vergangenheit. »Probespiel bei Borussia«, flüsterte er. »Alles gelogen … war nur auf der Bank … immer nur auf der Bank. Ich war nur Reserve … hab nix getan. Aber wenn das Bein wieder anwächst, dann komm ich fest in die Mannschaft.«
    Das kleine, spitze Gesicht verschwamm unter dem Blick seines ehemaligen Leutnants. Hans zwang sich, über die fieberverklebten Haare zu streichen. »Bestimmt«, flüsterte er und dann Worte wie »genau«, »wird schon wieder«, »ganz sicher«, »du schaffst es.«
    Die Pausen dazwischen wurden immer größer und leerer, und er hoffte nur noch, dass Herbert möglichst bald sterben würde und sie hier hinaus konnten. Aber so weit war es noch nicht. Herbert starrte plötzlich verwundert auf das Bein, und sein Blick wurde merkwürdig klar.
    »Das ist ja das linke!«, rief er. »Ich hab keine zwei linken Beine. Ich lass mich nicht auswechseln! Weg, das ist nicht mein Bein, weg!«
    Er schleuderte das Bein von sich.
    Ein hohles Kichern erklang. Es war der einarmige Landser, den das abgeschnittene Bein zur ersten Zeile eines bekannten Revue-Schlagers inspirierte: »Tausend nackte Beinchen tanzen«, kreischte er, »tausend nackte Beinchen tanzen …«
    Der Pfarrer, der einmal behauptet hatte, Gott würde mit ihnen auf der Koppelschnalle in diesen Kampf ziehen, warf einen tadelnden Blick in ihre Richtung, der noch aus Friedenszeiten stammte und eine murmelnde Gemeinde zur Ruhe gebracht haben mochte, doch unter diesen Umständen war er genauso angebracht wie die Pappkrone der Sanitäter.
    Fritz wollte aufstehen, doch Herberts lange Fingernägel krallten sich in seine Haut. »Nicht weggehen, Fritz«, bat er. »Erzähl, gewinnst du immer noch beim Skat?«
    Fritz nickte. Der arme Kerl wusste ja nicht mal, was mit ihnen passiert war. Dass sie, weil sie ihn hatten retten wollen, im Strafbataillon gelandet waren. Er durfte es auch nicht erfahren.
    »Drei Bock, drei Ramsch«, sagte er.
    Herbert lächelte schwach. »Alles Ramsch. Wir waren ein gutes Gespann«, hauchte er und versuchte vergeblich, seine rechte Hand in Fritz’ Richtung zu strecken. »Zieh mir meinen Ring vom Finger, ich schaff’s nicht mehr.«
    Fritz nahm unbeholfen die Hand. Der Ehering, viel zu groß geworden, war bis über den Knöchel nach hinten gerutscht. »Nee, den brauchst du noch, wenn du wieder heimkommst.«
    »Alles Quatsch«, flüsterte der Sterbende streng. »Nimm du den Ring, nicht der Pfarrer!«
    »Wieso nicht der Pfarrer?«, fragte Hans.
    »Alles Quatsch«, wiederholte Herbert. Sein Atem rasselte. Fritz und Hans sahen sich an. Ein undeutlicher Verdacht keimte in ihnen auf.
    »Was macht denn der Pfarrer mit den Ringen?«, fragte Fritz noch mal.
    Herbert lächelte auf einmal wi e ein kleiner Junge, der ein Geheimnis hütet. »Das weiß nur der liebe Gott.«
    Laute Schreie hallten vom Treppenhaus her. Ein Sanitäter tauchte im Gefolge einiger Feldgendarmen im Eingang des Krankensaals auf.

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