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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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Pfad zwischen den Verwundeten hindurch, die hier längst nicht mehr in Reihen lagen. Schwarz waren hier die meisten Verbände und Gesichter, schwarz ganze Leiber, und es war keine Sinnestäuschung, dass sich die Schwärze auf den Glied maßen bewegte. Die Schwerverwundeten waren mit Läusen übersät, die ihnen das letzte Blut aus den sterbenden Körpern sogen und erst von ihnen abließen, wenn das Fleisch kalt wurde, um wie eine mitleidlose Miniaturarmee zu ihrem nächsten Opfer zu wandern.
    »Ich … ich glaub, ich schaff’s nicht«, wimmerte Bubi. »Lasst mich raus, bitte!«
    Fritz drückte seinen Arm. »Geht schon. Denk, du wärst jetzt hier.«
    »Und das an Weihnachten«, fügte Rollo hinzu.
    Ludwig presste ein Taschentuch gegen den Gestank vor den Mund. »Da hinten muss er irgendwo sein«, stieß er undeutlich hervor.
    Suchend tasteten sie sich weiter, bis Fritz plötzlich stehen blieb und sich zu einem spitzen, wachsbleichen Gesicht hinunterbeugte, das auf einem von Dreck und Läusen besudelten Hemd am Boden lag. Ein notdürftig verbundener Beinstumpf stand seltsam starr vom Körper ab, Eiter und Blut waren auf dem Verband festgetrocknet.
    »Das ist er doch«, stammelte Fritz atemlos.
    »Quatsch!« Rollo wollte ihn weiterschieben.
    »Doch.« Fritz griff dem wie leblos Daliegenden vorsichtig an die Schulter und bekam nur Knochen zu fassen. »He, Herbert, alter Stratege!«
    »Fröhlich e Weihnachten«, murmelte Gross.
    Herbert öffnete mühsam die Augen.
    »Tut doch die Läuse weg!«, jammerte Bubi.
    »Hat keinen Sinn, hat keinen Sinn, lass …«, flüsterte Herbert tonlos.
    Hans konnte seinen Widerwillen nur mühsam unterdrücken. Die Vorstellung, dass man selbst so enden konnte, war entsetzlich. Was war der Tod gegen dieses Leiden! Nichts! Angeekelt wandte er sich ab. Man sollte, man musste Mitleid empfinden – und empfand doch nur Abscheu. Er riss sich zusammen und stapelte das im Stahlhelm gesammelte Essen neben Herbert auf.
    »Hier, wir haben dir was mitgebracht.«
    »Danke«, flüsterte Herbert. »Hab jetzt keinen Hunger.«
    Ein Rumäne, der neben ihm lag, mischte sich mit gierigen Augen ins Gespräch. »He, nicht schlimm ein Bein weg, schau.« Er schlug eine dreckige Decke zurück und zeigte seine beiden unterhalb des Knies amputierten Stümpfe. »Jetzt ich kleiner als mein Sohn. Zehn Jahre, mein Sohn. Aber wenigsten s Ratten nicht fressen meine Zehen.«
    »Kriegst trotzdem nix«, sagte Fritz ungnädig.
    Hans bückte sich und gab dem Rumänen etwas von dem für Herbert gesammelten Essen ab. Verloren standen die anderen um ihren sterbenden Kameraden.
    Die weißen Lippen des einstigen Melders bewegten sich: »Ich … ich kann nicht heim ohne Bein … im Verein … mein Probespiel …« Unruhig rollte Herbert den Kopf hin und her.
    Fritz hielt ihn fest. »Alles halb so wild. Kriegst ’n Holzbein. Damit läufst du wie ’ne Eins. Ist wie beim Auto ’n Reifenwechsel …«
    »Halt die Klappe«, zischte Rollo. Laut wie zu einem Schwerhörigen redete er auf die schweißglänzende Stirn unter sich ein. »Hast schon gehört, Herbert? Feldmarschall Manstein hat unsere Heeresgruppe übernommen.«
    »Das ist der beste Stratege der Wel t«, pflichtete Bubi eifrig bei.
    »Strategie ist Quatsch«, flüsterte der ehemalige Freizeitstratege.
    Ein Armamputierter mischte sich ein. »Der alte Hoth …«
    »Papa Hoth«, krächzte ein anderer dazwischen.
    »Sag ich doch!« Der Einarmige redete sich in Fahrt. »Der ist mit einer Panzerarmee zu uns unterwegs. Nagelneue Tigerpanzer, die haben Kanonen, stärker als jede Acht-Acht.«
    »Ja, die kämpfen ganz von allein, und wir können endlich heim«, sagte Fritz gedehnt.
    Der Einarmige ließ sich nicht be irren. »Sie stehen vierzig Kilometer vorm Kessel, an der Myschkowa. Morgen sind sie hier.«
    »Das ist alles die Strategie vom Manstein«, warf Rollo ein.
    Von allen Seiten redete es jetzt durcheinander. Die Hoffnung auf die sagenhafte Panzerarmee des Generaloberst Hoth, die sich in den letzten Tagen immer näher an Stalingrad herangearbeitet hatte, verlieh den vom Wundfieber Ausgehöhlten letzte Kraft. Auch die Sträflinge schöpften neue Hoffnung. Nur Gross schwieg. Er hatte nämlich noch etwas anderes läuten gehört, von einem neuen großen russischen Durchbruch bei der achten italienischen Armee. Wenn das stimmte, war es mit dieser Befreiungsaktion von Hoth längst Essig. Aber warum sollte er den Männern die letzte Hoffnung nehmen? Vielleicht starb es sich leichter

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