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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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wieder unter Beweis zu stellen. »Macht, dass ihr nach oben auf den Lastwagen kommt!«
    Slesina richtete die Mündung seines Gewehrs auf Fritz, der sich neben Herbert gelegt hatte, um Hallers Todeskommando zu entgehen. »Alle!«
    Slesina drehte mit dem Fuß noch einige Schwerverletzte um, die wegen Rücken- und Gesäßverletzungen auf dem Bauch lagen, aber es war nichts Brauchbares mehr dabei.
    »Herbert«, flüsterte Fritz und drückte ein letztes Mal die heiße, dürre Hand. »Wir müssen jetzt gehen.« Er hatte das Gefühl, dem ehemaligen Melder noch sehr viel mehr sagen zu müssen, lauter Dinge, die er gar nicht ausdrücken konnte. Er beugte sich über dessen Gesicht und erkannte, dass er zu einem Toten gesprochen hatte.
    Fritz lächelte, obwohl es wehtat. Es war gut, dass es wenigstens einer von ihnen endlich hinter sich hatte. Vorsichtig löste er seine Finger aus Herberts Hand und schloss ihm die Augen.
    »Alles umsonst«, murmelte Rollo. Er erinnerte Fritz an einen alten, zerschundenen Ackergaul, den er mal zur Notschlachtung geführt hatte. Die Notschlachtung einer Armee, dachte er, und dann dachte er noch ein bisschen an alles, was Gross ihnen erzählt hatte. Man hätte früher anfangen sollen zu denken. Jetzt war es zu spät dazu. Er blickte auf Hallers lächelndes Kaninchengebiss.
    »Nehmt euch ’ne Wurst«, sagte der Oberleutnant.
    Fritz nahm sich fest vor, dass er, sobald er wieder eine geladene Waffe in Händen hielt, als Erstes nicht einen Russen, sondern Haller umlegen würde. Das war im Augenblick sein einziger Trost.

 
     
     
     
     
     
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    W ieder ein Lkw. Auf beiden Seiten der Plane ein großes rotes Kreuz. Auch wenn er Soldaten zur Front beförderte, hatte das durchaus seine Richtigkeit, denn das Kampfmaterial bestand aus rund fünfzig zum Teil schwerverwundeten Männern, denen man wie gebrechlichen Alten auf die Ladefläche hatte helfen müssen. Einigen fehlte ein Bein, ein Arm, ein Auge, anderen steckten Granatsplitter im eiternden Fleisch, wieder anderen fehlte nur vor Schmerz und Hunger der Verstand, ein Zustand, in dem die dreißig Grad minus und das dunkle Geschützgrollen im Aufscheinen und Aufblitzen über dem Horizont noch am ehesten zu ertragen waren. Doch gleichgültig, in welcher Verfassung, sie alle verschlangen ihre Pferdewurst und ihr Brot.
    Zusammengepfercht, von Feldgendarmen bewacht, rollten auch die fünf Bewährungssoldaten mi t ihrem vor Angst zitternden Bewacher Ludwig dem erneuten Verhängnis entgegen, und es war ein charakteristischer Zug dieses Krieges, dass die einzigen Gesunden und Kräftigen, nämlich die Kettenhunde, wieder einmal nicht kämpfen sollten. Sie waren Handlanger, die ihre jämmerlichen Opfer in den unersättlichen Rachen des Kriegsgottes führten. In immer mehr fieberkranken Gehirnen machte sich der Gedanke breit, dass es sich angesichts dieser Leiden und des sinnlosen Sterbens nicht mehr länger um einen Krieg von Menschen, sondern um ein furchtbares Gottesgericht handeln müsse. Wenn aber das Sterben hier ein Gottesgericht war, konnte man dagegen nichts unternehmen, sondern nur hilflos sein Haupt beugen.
    Das Geräusch der durchdrehenden Vorderräder zeigte an, dass es wieder mal so weit war. Von bellenden Befehlen gescheucht, sprangen die, die es noch konnten, auf den hart gepressten Schnee, hieben ihre Stahlhelme in die Wehe vor den Rädern und gruben und fluchten, bis die Reifen wieder griffen. Dann kletterten sie auf die Ladefläche zurück und fuhren weiter ihrem Unterga ng entgegen. In Stalingrad war eben nichts umsonst, nicht mal die Fahrt zum Schafott.
    Einige schrien vor Schmerz, als ihre halb erfrorenen Hände wieder auftauten. Auch Fritz weinte. Wegen der Kälte, den Schmerzen in den Fingern, die erst weiß waren und dann langsam wieder rot wurden und anschwollen. Und wegen Herbert, den er eigentlich kaum gekannt hatte und doch plötzlich so sehr wie einen kleinen Bruder liebte. Die vier anderen begriffen, dass seine Tränen nicht nur von der Kälte herrührten, und rückten näher an ihn heran. Auch Gross, der als Einziger wusste, dass nicht der Verstorbene, sondern der eigene bevorstehende Tod Anlass für derlei Gefühlsausbrüche war, rückte näher heran, beinahe verlegen, wie an ein Feuer, für das er kein Holz gesammelt hatte.
    »Ich würd auch gern mal flennen«, murmelte Rollo. »Aber ich kann’s nicht, kann’s einfach nich t.« Er blies gegen seine lumpenumwickelten Finger.
    »Ich bin gar nicht wegen ihm so

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