Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
vielleicht fünfzig Metern Länge und fünfundzwanzig Metern Breite, vollgestopft mit Verwundeten und Kranken. Dazwischen schmale Pfade, auf denen sich im Takt ei nes leise gesungenen Weihnachtsliedes fünf Sanitäter bewegten. Einer von ihnen trug eine Pappkrone auf dem Kopf. Zwei Feldgeistliche verteilten, da sie sonst nichts hatten, Trost. Hans erkannte in einem von ihnen den Pfarrer, der sie mit seiner Predigt in den letzten Angriff geschickt hatte.
Er sah hinab auf die vom Hunger ausgezehrten Hände, die sich ihm entgegenstreckten, befahl sich, die fieberglühenden, von Durchfällen ausgedörrten Gesichter zu ertragen, die grünlich gefärbten Bauchdecken, die erstarrten Muskeln der Gestorbenen. Vergilbte, schmutzigbraune Gesichtshaut, gleich Lampenschirmen über tote Knochen gespannt, auslaufende Augäpfel, leere Blicke, mit Fliegen gefüllt. Schwer und satt, grün und blauschimmernd stiegen sie unter seinen ersten Schritten mit dem Fäulnisgeruch zur Decke auf, an der in weiten Abständen, auf einen dünnen Draht gereiht, einige nackte Glühbirnen baumelten.
Hans verwandelte sich plötzlich wieder in den Leutnant, und der Leutnant hatte Verantwortun g für einen Kameraden, der vielleicht gefunden, gerettet oder auch nur zum letzten Mal gefüttert und getröstet werden konnte, und so ging er entschlossen durch die Reihen der Verwundeten, Kranken, Sterbenden und Toten, zwang sich, faulendes und verfaultes Fleisch anzuschauen, Fragen zu stellen an wachsbleiche Gesichter, an Jammernde, Hilfesuchende, Gleichgültige, die sich mit blutverkrusteten Verbänden, gelben und schwarzen Flecken auf den Wangen zum Sterben auf die Seite drehten, doch niemand, niemand konnte ihm sagen, wo in diesem Haufen von unaussprechlichem Elend ein Soldat namens Herbert Geiger lag.
Schließlich hatte er sich bis zu den Weihnachtssängern durch gearbeitet, doch auch die schüttelten nur müde die Köpfe. Ein Torso, der in den Armen des Pfarrers wie ein in Blut und Fäkalien gewickeltes Kind aussah, spuckte plötzlich in den hingereichten Becher und tobte los: »Aufhören! Aufhören mit Weihnachten! Schluss jetzt!«
Er stieß mit seinem bandagierten Kopf nach dem Gesicht des Pfarrers, und es schien, als woll e er nicht mit Weihnachten, sondern auch mit sich selbst Schluss machen.
Sein Gebrüll wurde wie a uf Kommando von den anderen aufgefangen, die ebenfalls mit letzter Kraft ein Ende dieser grotesken Vorstellung verlangten. Ein delirierender Panzerleutnant, der bisher nur auf imaginäre T-34 gefeuert hatte, nahm einen Becher und warf ihn nach den Sängern. Andere fielen heulend in diesen Chor des hilflosen Hasses ein, und es schien Hans, als hassten sie die Sänger und den Pfarrer allein deshalb, weil diese in ihren Augen unverdienterweise noch gesund auf zwei Beinen gingen und nicht von Fieber, Eiter und Läusen zerfressen wurden.
Eine Kugel, dachte Hans plötzlich, ein Feuer, eine gigantische Explosion, in der diese Hölle versinken sollte, die schlimmer war, als es jede Hölle im Jenseits sein konnte.
Entsetzt schlug er die Hände vors Gesicht und sah mit flackernden Lidern zwischen seinen Fingern hindurch. Es ließ sich nicht leugnen: Für einen Moment war es sein sehnlichster Wunsch gewesen, alle diese Kranken zu vernichten.
Das Geheul zu seinen Füßen hatte nachgelassen. Die Tobenden waren zu schwach, um sich länger gegen den Trost und Zuspruch des Pflegepersonals und der weniger verunstalteten Kameraden wehren zu können
Der Pfarrer wischte mit fahrigen Händen das Blut des Torsos von seiner Uniform, und Hans musste die Frage nach seinem verletzten Kameraden zweimal stellen, ehe er ihn überhaupt verstand. Dann sah er ihn an, mit seltsam leuchtenden Augen, und wies mit der Überschwänglichkeit des Nervenkranken auf einen Pfeiler im Halbdunkel des Gewölbes.
»Er liegt unter dem Kreuz. Direkt unter dem Kreuz.«
Hans tastete sich zwischen den Verwundeten hindurch zu dem Pfeiler. Wie er vermutet hatte, befand sich sein Melder nicht an der angegebenen Stelle. Entschlossen, das Unternehmen abzubrechen, ging er zu den anderen zurück.
Ausgerechnet Ludwig, ihr Wächter, hatte zwischenzeitlich Erfolg gehabt. Er hatte ebenfalls nach dem Gesuchten gefragt – aus dem einfachen Grund, weil er so schnell wie möglich wieder aus dieser Unterwelt heraus wollte. Mithilfe e iniger Zigaretten war es ihm gelungen, aus einem Sanitäter herauszukriegen, wo die Beinamputierten lagen.
Diesmal schlängelten sich alle auf einem schmalen
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