Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
Vom Netzwerk:
Dann würde Gross wieder einsatzfähig sein. Gross wusste das am besten, denn nach einer Weile murmelte er: »Du brauchst mich offenbar wirklich dringend.«
    »Da kannst du Gift drauf nehmen«, erwiderte Musk und sah auf Gross’ schmalen Nacken, aus dem die Sehnen wie Kabel hervortraten. »Du bist mehr wert als drei Panzer.«
    Gross schämte sich, weil er nicht die Kraft hatte, endgültig im Dickicht seiner Gehirnwindungen zu verschwinden. Schließlich hob er den Kopf, lächelte mit trän enverschmiertem Gesicht. »Garantierst du mir, dass ich draufgehe?«
    Musk lächelte. »Ich würde sagen, es besteht eine ungewöhnlich hohe Wahrscheinlichkeit. Also, was ist?«
    Gross erhob sich seufzend und nahm sich noch eine von Musks Zigaretten. »Ich verspreche nie mehr was. Hab ich mir abgewöhnt.« Er ging zur Tür.
    »Bleib noch. Bitte.«
    Gross drehte sich um. Musk stand dicht hinter ihm. Auch er hatte sich eine Zigarette angezündet, und auch in seinen Augen standen Tränen.
    »Es tut mir nicht leid, was ich getan habe«, sagte Musk. »Es darf mir nicht leid tun, weil es richtig war. Aber manchmal weine ich trotzdem.«
    Gross nickte. »Hat nichts zu bedeuten. Ich weine dauernd. Ist im Grunde ein lebensbejahender Reflex.«
    Sie blickten in die klare Nacht, unter der sich das Schneefeld wie ein unendliches Leichentuch ausbreitete.
    »Der Russe hat uns hier viel voraus«, sagte Musk. »Er ist durch diese Landschaft seit Jahrhunderten ans Leiden gewöhnt.«
    »Wir gewöhnen uns auch noch daran.«
    Musk dachte an die mittelm äßigen Malversuche seines ehemaligen Freundes. »Es gibt hier durchaus Bilder von wahrer Größe und Schönheit.«
    »Man muss nur den Mut haben, sie zu sehen, ich weiß.« Gross lächelte zynisch. »Ich liebe es, hier zu sein. Wenn das Leid hier nicht den Genius aus mir herausschält, dann nirgends. Das willst du doch sagen, oder?«, fügte er hinzu . »Siehst du, ich muss mich einfach hassen. All dieses Elend, extra für mich. Und trotzdem gelingt mir nicht das große Werk, und es wird mir auch nie gelingen. Welche Verschwendung.«
    »Was ist eigentlich mi t deinen Zähnen?«, fragte Musk.
    »Zu viele Süßigkeiten«, erwiderte Gross.
    Musk sah auf die Uhr. Dann stapften sie beide nach draußen, und der Wind trieb sie dem Sterben entgegen.

 
     
     
     
     
     
    54
     
     
    D er notdürftig wieder aufgefüllte Haufen flatterte wie eine zerfetzte Fahne im Wind. Man hatte in die Bettlaken Löcher für Kopf und Arme geschnitten, sie degradierten die Männer endgültig zu Gespenstern. Einige hatten ihre Helme mit weißem Tuch bespannt. Ordentliche Handschuhe besaßen die wenigsten.
    Unter der Führung des Haup tmanns kämpften sich die Verwundeten hinter den Entkräfteten und die Entkräfteten hinter den Erschöpften über einen verwehten Pfad durch die weiße Steppe zur vordersten Linie. Ein gnädiges Schicksal blies ihnen den Wind in den Rücken, gegen den Wind hätte ein erheblicher Teil von ihnen nicht einmal die Stellung erreicht.
    So hatten sie nur einen einzigen Ausfall zu beklagen, einen jungen Gefreiten, dessen krankes Herz mitten im Schritt endgültig stehen blieb. Er fiel mit dem Gesicht voraus in den Schnee und spürte endlich die Kälte nicht mehr. HGM tastete nach seinem Puls. Die Anzahl der Simulanten war in den letzten Tagen besorgniserregend in die Höhe geschnellt. Diesmal aber simulierte der Mann nicht. Er war tot.
    Zwei Männer rollten den Leichnam auf die Seite. Sie beneideten den jungen Gefreiten um sein schnelles, schmerzloses Ende und hassten ihre Herzen, die unvernünftigerweise weiterschlugen, und ihre Gedanken, die halb erstarrt hinter der völlig erstarrten Stirn summten wie sterbende Fliegen hinter einer vereisten Fensterscheibe.
    Sie kämpften sich an ausgebrannten Lkw-Wracks, zerstörten Geschützen und Menschenresten vo rbei, stolperten über einen niedergetretenen Stacheldraht. Schemenhaft tauchten drei weiße Hügel vor ihnen aus der Finsternis auf. Ihre Kuppen waren wie abgeschnitten, im Trommelfeuer eingeebnet. Dort oben hatte man zwei der letzten drei 7,5-cm-Paks verloren, die einzige wirksame Waffe, die man noch gegen die russischen Panzer besaß. Musk hatte daraufhin das letzte Geschütz hinter dem Hügel aufstellen und notdürftig mit Sandsäcken und Schnee tarnen lassen.
    Auf den schwarzen Tellern der drei Hügel bezogen die Gehbehin derten und schwerer Verwundeten Stellung. Sie waren der Köder für die russische Artillerie, ihre Chancen, das gegnerische

Weitere Kostenlose Bücher