Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
weg mit der Erschöpfung! Das musste gelingen. Es musste!
Fritz warf einen Blick auf eines der flachen Schützenlöcher neben seinem MG, während er seinen Stahlhelm weißelte.
»Da hat ja nicht mal ’n Hase drin Platz«, sagte er zu Gross, der mit Handgranaten und Tellerminen an ihm vorbei zu seinem Loch stiefelte, das er sich mit Hans teilte.
»Sind auch nur zum Aufwärm en, Dicker. Wenn die Panzer kommen, nichts wie raus!«
Fritz sah sich ratlos um. »Und wohin?«
»Das merkst du dann schon«, sagte Gross mit schiefem Grinsen und ging weiter.
Gross blieb erschöpft stehen, um etwas auszuruhen, und zerrte sich die dreckstarrenden Tücher vom Gesicht. Die Kälte griff mit eisigen Klauen nach ihm und riss seinen Schädel mit einem befreienden Krachen über der Nasenwurzel auseinander. Das Krachen dröhnte wie eine Glocke durch seinen Körper und tobte dann mit einem betäubenden Schlag über den gesamten Frontabschnitt.
Im nächsten Moment fügte sich sein Schädel wieder zusammen, und er sprang mit einem Satz neben seinen ehemaligen Leutnant in das Erdloch, kurz bevor die nächste Serie russischer Granaten die Schneefläche in einen brodelnden See und die Hügel hinter ihnen in Eisen und Fleisch speiende Rauchkegel verwandelte.
Gross sog den Geruch von Verbranntem ein, und er fühlte sich plötzlich ganz ruhig. Er war wieder zu Hause, funktionstüchtig, ein Soldat. Er wollte aufspringen, wollte kämpfen.
Hans, der glaubte, Gross hätte die Nerven verloren und wollte sich ins Feuer stürzen, hielt ihn fest. In den nächsten Sekunden und Minuten wurde rasch gleichgültig , wer der Retter und wer der Gerettete war; man klammerte sich aneinander und fühlte sich wie auf einem Floß, das von meterhohen Wellen umhergeschleudert wurde, obwohl man sich nicht von der Stelle bewegte.
Rechts von ihnen saß Bubi in seinem Schützenloch, mit schwacher Blase und klappernden Zähnen, und in ihm wimmerten die Schlagworte, die er gehört hatte, »Tod oder Freiheit«, immer wieder, und dann wimmerte es nur noch »Kalt, so kalt«, und schließlich wimmerte es nur noch »Pissen, ich muss pissen«, und je mehr er es unterdrückte, desto schlimmer wurde es, bis er das Gefühl hatte, es würde ihn zerreißen. Er versuchte, einfach in die Hose zu pinkeln, aber es ging nicht, und je mehr er es versuchte, umso weniger konnte er es. Er musste raus!
Rollo riss ihn zurück, und Bubi brüllte ihn an, dass er pinkeln müsste, und Rollo brüllte zurück: »Mach schon!«, und Bubi wollte wieder hoch und sah, wie das Lo ch neben ihnen durch einen Volltreffer zu einem Springbrunnen aus Erdklumpen und Schnee verwandelt wurde und wie ein blutiges Haarbüschel aus einem Helm rollte, der neben ihnen zu Boden klatschte.
Mit kältestarren Fingern versuc hte er seine Hosenknöpfe zu öffnen – vergeblich. Rollos Hände kamen ihm zu Hilfe. Er wollte sie abwehren, aber Rollo war stärker, und Bubi schloss beschämt die Augen und wartete auf die messerscharfe Kälte, aber es wurde gar nicht kalt, und auf einmal ging es, und er fühlte sich unendlich erleichtert.
Als er die Augen wieder öffnete und den Kopf wandte, sah er, wie Rollo, während er ihm wieder die Hose zuknöpfte, breit grinste, und plötzlich bewunderte und liebte Bubi ihn dafür, umarmte ihn und presste den Kopf mit dem Stahlhelm an seine Brust, und Rollo streichelte seinen Nacken und ko nnte sogar kurz und heiß das Gefühl in sich wachrufen, wie es war, einer Frau den Nacken zu streicheln, und er dachte: Wenn es uns jetzt erwischt, dann weiß ich wenigstens, wofür.
Und dann schleuderte eine weitere Granate Schnee und gefrorenen Dreck in ihr Loch, und er dachte an gar nichts mehr, sondern fror nur noch und hatte Angst.
Langsam wurde es hell. Der Wind hatte nachgelassen. Vermehrt fielen Schneeflocken sanft und leise zwischen den fauchenden und einschlagenden Granaten vom Himm el. Zwei russische Aufklärungsflugzeuge zogen ihre Bahn. Das feindliche Feuer konzentrierte sich auf die Hügel. Dort vermuteten die Russen die letzten deutschen Geschütze und ihre Granaten wurden, wie Musk es beabsichtigt hatte, von der vorderen deutschen Linie und der rückwärtigen Batterie abgelenkt.
Im Vergleich zu dem nun einsetzenden Höllensturm war alles Bisherige nur Geplänkel gewes en. Mit Tonnen von glühendem Metall wurden die vermeintlichen Stellungen in den Boden gestampft. Die Schneisen zwischen den Hügeln schonte man.
Plötzliche Stille. In einigen der überlebenden
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