Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
Kälte relativ schnell der Fall. Dann sagte er: »Ihr habt gesehen, dass ich die Feldgendarmerie weggeschickt habe. Sonst wärt ihr jetzt alle dran. Auf Befehlsverweigerung und Feigheit vor dem Feind steht der Tod.«
»Erschießt uns doch alle! Uns ist’s egal, ob der Russe oder ihr!«, schrie Fritz.
Erneute Zustimmung.
Sieh an, dachte Gross, sie sind ta tsächlich bereit, sich aufzulehnen! Er sandte ein höhnisches Grinsen in Musks Richtung. Es wird nicht leicht für dich werden, alte Muskete! Was mach ich eigentlich, wenn du’s nicht schaffst? Soll ich mich dann auch totschießen lassen? Mit Sicherheit eine der komfortabelsten Todesarten, die man in diesem Scheißkessel noch kriegen konnte.
Er beschloss, sein zerstörtes Leben in die Hände seines ehemaligen Freundes zu legen.
Der gab sein Bestes. »Bevor ihr euch entscheidet«, sprach er ruhig in das abebbende Gemurmel, »möchte ich euch gern noch etwas erzählen.«
Gross stellte grimmig fest, dass bereits Musks erste, bewusst unmilitärisch gehaltenen Worte ihre Wirkung nicht verfehlten. Die Mehrzahl der Männer hörte, wenn auch sichtlich missmutig, zu, und Musk sprach so sachlich und überzeugend, dass sich selbst Gross dabei ertappte, wie er gegen seinen Willen den Worten lauschte.
»Die Russen haben gestern den ganzen Tag versucht, unsere Stellung hier vor Marinowka einzudrücken. Es ist uns unter schweren Verlusten gelungen, die Stellung zu halten, aber die Russen werden es bestimmt wieder versuchen, sobald es hell wird, und ohne euch ist die Stellung mit Sicherheit verloren.«
Protest, Empörung, aber auch erste Gegenstimmen. Ungefähr siebzig zu dreißig, dachte Gross.
»Warum ist diese Stellung so wichtig?«, fuhr Musk fort. »Marinowka ist die Basis für den Ausbruch unserer Armee und für die Vereinigung mit der Panzertruppe von Generaloberst Hoth, die nur noch vier Kilometer von uns entfernt steht. Jeder von euch weiß, Männer, dass wir schleunigst aus diesem verdammten Kessel raus müssen. Deshalb bedeutet Marinowka die Freiheit und der Verlust von Marinowka den Tod! Nicht nur den Tod von euch, sondern den Tod der ganzen Armee!«
Musk machte eine kurze Pause und ließ seine Worte wirken. Dann fasste er geschickt nach: »Was gerade geschehen ist, war schlimm und ungerecht. Aber wo llt ihr jetzt hunderttausend unschuldige Kameraden für die Ungerechtigkeit eines einzigen Mannes büßen lassen? Wollt ihr das?«
Einige Männer schüttelten den Kopf. Gross’ Hoffnung auf eine saubere Exekution sanken erheblich. Ich habe es geahnt, dachte er, ich habe es von Anfang an geahnt.
Plötzlich fühlte er die bleigrauen Augen des Hauptmanns auf sich gerichtet, zu spät, um seinem Blick auszuweichen. Die Stimme des Hauptmanns klang fast feierlich, als er fortfuhr: »Einer von euch war dabei, als ich in Demjansk meine Kompanie und meinen besten Freund verlor, weil ich nicht den Befehl zum Rückzug gegeben habe. Durch dieses Opfer ist damals der gesamte Frontabschnitt und das Leben von Tausenden gerettet worden.«
Das kann nicht wahr sein, dachte Gross. Das kann er nicht machen! Er kann nicht mich, nic ht meine Geschichte dafür benutzen!
Die Worte des Hauptmanns dröhnten wie H ammerschläge in seinen Ohren: »Ich habe damals meinen Arm verloren. Aber wenn wir heute Marinowka halten, bin ich bereit, dafür auch meinen anderen Arm zu opfern. Das sind keine leeren Worte, Männer. Ich werde mit euch in vorderster Linie stehen. Nun frage ich euch: Wollt ihr kämpfen und vielleicht sterben, für eure Freiheit und die unserer Kameraden? Lasst euch Zeit mit eurer Entscheidung, Männer. Wie immer sie ausfällt, ich werde sie akzeptieren.«
»Eine großartige Entscheidung«, murmelte Hans.
Gross sah ihn niedergeschlagen an. Warum gehst du nicht vor und hältst eine Gegenrede? Und warum mache ich es nicht?, dachte er. Weil wir feige sind. Wir alle. Feige.
Da die Männer länger zögerten als erwartet, sah sich Musk doch genötigt, noch etwas nachzuschicken. Vielleicht waren sie auch nur zu erschöpft, um sich zu äußern. »Wenn ih r kämpft, wird keinem von euch etwas geschehen, darauf habt ihr mein soldatisches Ehrenwort.«
Der Gefreite, der vorhin besonders laut protestiert hatte, trat zögernd vor. »Solange Sie uns führen, Herr Hauptmann«, sprach er und versuchte, seiner Stimme ei nen festen Klang zu geben, »werden wir kämpfen.« Er machte eine kurze Pause, sah zu Boden, blickte wieder auf und stieß hervor: »Aber wenn Sie fallen, tun wir, was
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