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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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lebenswichtig, gerade hier!«
    »Und an was glaubst du? An den Führer?«
    »An die Vernunft!«, schrie Musk.
    Gross lachte. Musk hätte ihn am liebsten dafür geschlagen.
    »Egal, was du denkst, wir müssen aus diesem Kessel raus. Jetzt. Das ist vernünftig. Und dafür brauchen wir jeden Mann. Willst du tatenlos zusehen, wie deine Kameraden draufgehen?«
    »Wir haben überhaupt keine Chance mehr!« Gross schrie e benfalls, wurde aber von einem heftigen Hustenanfall unterbrochen und schleuderte die Zigarette wütend weg. »Wir kommen hier nie raus«, flüsterte er mühsam. »Das wissen wir beide ganz genau. Warum kapituliert ihr nicht endlich?« Er hustete erneut.
    Musk klopfte ihm auf den Rücken, und Gross war zu schwach, um sich dagegen zu wehren. »Es sind schon die unmöglichsten Dinge geglückt«, sagte Musk. »Und du weißt genau, was uns in Kriegsgefangenschaft erwartet.«
    »Ja – weil wir uns in Russland wie d ie letzten Säue aufführen!«
    »Ich bin kein Nazi, Otto.«
    Gross duckte sich, und für einen Moment sah es aus, als wolle er Musk an die Gurgel gehen. »Nein«, zischte er, »ihr seid noch schlimmer, ihr Offiziersgesocks! Ihr habt mitgemacht, obwohl ihr ganz genau wusstet, mit wem ihr euch einlasst. Vernunft! Für wen? Natürlich ist es für die Führung sinnvoll, noch Hunderttausend zu opfern, um den Südflügel zu stabilisieren, ein Remis zu erreichen, die eigene Haut zu retten. Aber frag mal die, die dafür verrecken müssen!«
    »Es gibt immer wieder Situationen, bei denen sich der Einzelne opfern muss, um die Gemeinschaft zu bewahren«, entgegnete Musk heftig. »Das infrage zu stellen, heißt, die menschliche Gesellschaft infrage zu stellen!«
    »Ich stelle sie infrage!«, rief Gross. »Ja, es gibt eine Notwehrsituation, in der es Sinn macht, dass man sich opfert. Wobei dieses Opfer jedoch immer nur freiwillig sein kann und nie verlangt werden darf. Aber diese Notwehr wurde uns von Anfang an nur vorgelogen, um maßlose Verbrechen zu rechtfertigen.«
    »Gleichgültig, wie es anfing, augenblicklich befinden wir uns in einer Notwehrsituation, und ich frage dich zum letzten Mal: Wirst du kämpfen oder nicht?«
    Gross brach in ein kurzes Gelächter aus, das wieder in einen Husten mündete. Musk hatte ihn tatsächlich dazu gebracht, dass er seine längst zerbrochenen humanitären Grundsätze noch einmal aus der Gruft holte. Er hatte ihn gezwungen, die Dinge normal zu sehen, sich auf konventionelle Denkmuster zu verständigen, Rede, Antwort, Gegenrede, abwägen, relativieren, Prioritäten setzen, in einem weihnachtlichen Kuhstall mit gefrorenen Ochs- und Eselstücken!
    Eine rasende Liebe zu der kalten bleiernen Kugel ergriff ihn, die in wenigen Stunden dafür sorgen würde, dass sein verfaulter Mund, seine erfrorenen Augen, seine Stirn und seine gesamten lächerlichen Grundsätze und Ideen in den Schnee spritzten. Denn jeder Grundsatz, jede Idee, jedes Denken war obszön unter diesen Bedingungen, geradezu widernatürlich. Ab in den Schnee damit. Ende, aus – welch herrliche Klarheit in diesen drei Buchstaben!
    Undeutlich hörte er Musks Stimme, das Wort »beruhigen« setzte sich schließlich in seinen Gehörmuscheln fest.
    »Beruhigen?«, fragte er, und das Wort buchstabierte sich mühevoll in seinem Hirn. »Wenn’s ’nen Sinn hätte, würd ich dich abknallen. Aber es hat keinen, weil alle so sind wie du.«
    Musk grinste. Damit hatte Gross schon zu oft gedroht. Es war immer ein Zeichen dafür, dass er sich wieder entspannte.
    »Na schön, ich bin der Teufel für dich. Schließen auch wir einen Pakt. Wie war das noch? Solang ich lebe, wirst du kämpfen, wenn ich falle, hast du Handlungsfreiheit.«
    »Hast du nicht kapiert?«, schrie Gross, und seine Verzweiflung hatte einen Grad der Selbsterniedrigung erreicht, der ins Groteske mündete, was sich darin äußerte, dass er jede seiner Silben abgehackt und einzeln betonte. »Schieß mich über den Haufen! Häng mich an den höchsten Baum! Ich bitte darum!«
    »Hier hat’s keine Bäume«, sagte Musk.
    »Ich will mich jetzt opfern!«, sagte Gross, besoffen von Kälte und Wahnsinn. »Ich will der Gemeinschaft ein leuchtendes Beispiel von Feigheit geben. Weihnachtliche Feigheit. Bitte opfere mich jetzt. «
    Er sank erschöpft auf die Knie und ließ es nach einer Weile zu, dass Musk seinen Kopf in seinen Schoß legte.
    Musk kannte seine Anfälle und war sicher, dass auch dieser, der nicht der schlimmste war, den er erlebt hatte, vorübergehen würde.

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