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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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und er wollte nicht sterben, weniger als jemals zuvor. Er zwang seine Hände, ruhig zu bleiben, biss kurz die Zähne zusammen, das kalte Metall des Abzugs klebte an der Haut des Fingers, der Blick heftete sich auf das verweinte Gesicht seines Opfers, holte es unwirklich nahe heran, und die Kälte in Hans’ Magen verwandelte sich in Hass, Hass auf die großen Augen, die abstehenden Ohren, den Revolutionsphrasen murmelnden, zitternden Kindermund, Hass auf das gesamte Bild, das ein stummes Zeugnis entsetzlicher Schuld war, seiner Schuld, einer Schuld, der er nicht entkommen konnte und damit auch nicht mehr entkommen wollte.
    Heiße Angst durchfuhr ihn angesichts der freudigen Erwartung, das Bild zerplatzen, fallen zu sehen, ausgelöscht. Er hielt den Atem an, und mit seinen Lungen legten sich auch sein Blut und sein Gefühl zur Ruhe, bis er sich vollkommen leer fühlte. Er suchte den Druckpunkt.
    »Feuer!«
    Es war wie immer. Er spürte den gleichen Triumph wie im Kampf, die Gewissheit, getroffen zu haben. Dieses Gefühl konnte, durfte nicht sein. Hinter seiner Stirn brachen die Gedanken zusammen.
    Er starrte nach vorn. Die meisten Russen waren nach hinten in den Graben geschleudert worden, nur bei zweien musste mit den Stiefeln nachgeholfen werden. Auch der Junge war verschwunden. Weg. Ausgelöscht.
    Ein Feldgendarm stapfte zur Kontrolle durch den Graben und über die Toten. Die Pistole in seiner Hand blieb unbenutzt.
    Die nächsten Russen wurden vor den Graben geführt. Die Gewehre hoben sich erneut. Die Gesichter der Soldaten zeigten Apathie. Keine Verzeihung, flüsterte der Leutnant, um Gottes willen keine Verzeihung, ich muss es aushalten, der Tod ist die einzige Gnade, die einzige!
    Er begann zu kichern und presste unter dem drohenden Blick eines Bewachers erschrocken den heißen Lauf seiner Waffe an die Lippen. Es zischte. Der Schmerz brannte ihm Tränen in die Augen, die in ein stoßweises Schluchzen ausarteten. Mit schief gelegtem Kopf lauschte er seinem Weinen. Weder der Schmerz noch die Tränen schienen zu ihm zu gehören.
    Mechanisch hob er wieder die Waffe. Musk entdeckte, dass er sich unvorschriftsmäßig an der Exekution beteiligt hatte, und ließ ihn beiseite führen. Während die nächsten Schüsse krachten, ging der Leutnant langsam davon. Seine Schritte waren merkwürdig kurz. Er hatte eine der letzten Schallmauern der Menschlichkeit durchbrochen.

 
     
     
     
     
     
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    W enige Stunden später hatte sich der Leutnant wieder gefangen. So schien es zumindest. Er war zur Einsatzbesprechung gegangen, hatte Laske gegrüßt, hatte auch Musk gegrüßt und weder Hand noch Stimme gegen sie erhoben, sondern ruhig ihren Anordnungen gelauscht. Die liefen darauf hinaus, dass Musk mit seinen Leuten am nächsten Morgen in Goncara Stellung beziehen würde, um den Ort zu einem festen, uneinnehmbaren Stützpunkt auszubauen, denn es stand zu befürchten, dass die Russen, nachdem ihr Kapitulationsangebot abgelehnt worden war, mit verstärkten Kräften versuchen würden, den Kessel von Westen her einzudrücken.
    Hans sah sich erstaunt um. Kapitulationsangebot? Ja, bestätigte Musk, es habe ein Kapitulationsangebot gegeben. Selbstverständlich sei man darauf nicht eingegangen, fügte Laske barsch hinzu, denn abgesehen davon, was von diesen Schimpansen zu erwarten sei, könne man Manstein in dieser schweren Stunde unmöglich im Stich lassen. Die Heeresgruppe A und damit der gesamte Südflügel der Ostfront sei nur zu retten, wenn es Manstein und Kleist gelänge, sie rechtzeitig durch den Flaschenhals von Rostow zu bringen. Würde man kapitulieren, ständen den Russen zusätzliche sieben Armeen von der Stalingrader Front bei Rostow zur Verfügung.
    Musk trat an die Karte. Wenn di e Russen mit massierter Feuerkraft angriffen, erläuterte er sachlich, dann sei Pitomnik – er wies auf die Mitte des Kessels – höchstens noch fünf Tage zu halten.
    Die Offiziere sahen sich erschrocken an. Pitomnik, das war der Flugplatz, das Herz, aus dem – wenn auch versiegend – die letzten Blutstropfen an Verpflegung, Medikamenten, Sprit und Munition in den Kessel gepumpt wurden. Musk zeichnete eine neue Linie auf der Karte ein, die von Bor odkin aus über Goncara und Woroponowo dem letzten Stück des Rossoschka-Baches bis nach Petschanka folgte. Der Kessel hatte bereits über die Hälfte seines Umfanges verloren. Zwischen Goncara und Stalingrad-Stadt lag Gumrak, der letzte Flugplatz. Deswegen musste Goncara so lange wie

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