Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
Namen von dem Arzt kenn ich.«
»Ich auch«, sagte Gross.
Fritz packte den Kleinen an den Schultern. »Mensch, da müssen wir uns nur noch ’n paar harmlose Durchschüsse verpassen, dann sind wir draußen.«
Rollo runzelte fassungslos die Stirn. »Sag mal, biste total behämmert? Du kannst doch nicht einfach abhauen!«
»Du kannst ja hierbleiben und auf Manstein warten!«
Rollo hob die Hasen auf und sah sich nach einem geeigneten Feuerplatz um. »Ja, ja, Dicker, ist ja gut.«
»Ist mein Ernst«, sagte Fritz. Seine Stimme klang auf einmal kantig. »Ich hau ab.«
Rollo sah ihn entgeistert an. »Weißt du, was du da sagst? Du willst desertieren? Und das nach allem, was der Hauptmann für dich getan hat? Du bist rehabilitiert worden …«
»’n Scheiß hat er für mich getan!«, fuhr Fritz auf.
Rollo sah Hans hilflos an. »Herr Leutnant, bringen Sie ihn zur Vernunft!«
Hans presste die Lippen zusammen. Jetzt war es soweit! Er musste sich entscheiden. Er musst e endlich die hochtrabenden Fantasien, Wunschvorstellungen, Möglichkeiten zu einem kleinen Stück eigenständiger grauer Wirklichkeit werden lassen. Aber dazu war er nicht fähig. Alles, was er an Erziehung und Ausbildung erfahren hatte, stand wie eine unüberwindlich hohe Mauer vor ihm. Verzweifelt wünschte er sich, woanders zu sein. Aber er war hier, und alle warteten auf seine Antwort. Er war ihr Offizier.
»Wer glaubt noch daran …« Seine Stimme klang heiser und fremd, und er musste sich räuspern, um weitersprechen zu können. »… dass wir hier auf legalem Weg lebend herauskommen?«
Gross lachte verächtlich. Erwartete der Leutnant darauf wirklich eine Antwort? Bubi schüttelte den gesenkten Kopf, sah dann hoch, und sein Blick suchte ängstlich das Einverständnis der anderen. Rollo starrte ihn an und konnte immer noch nicht begreifen, was auf einmal los war.
»Mensch, Kleiner, das ist doch nicht dein Ernst.« Er versuchte zu grinsen, kratzte verzweifelt den kümmerlichen Katechismus zusammen, an den sich die Soldaten im Kessel noch immer klammerten: »Der Führer haut uns raus, der Führer hat noch nie ’ne Armee im Stich gelassen! Das können die sich doch gar nicht leisten!«
»Sie haben gar keine Wahl!«, platzte es aus Hans heraus. Seine Stimme war nicht mehr die eines O ffiziers, sondern die eines verängstigten zweiundzwanzigjährigen Mannes. Er hatte es nicht sagen wollen, aber nun fühlte er, dass es richtig war. Er wartete, bis seine Stimme wieder die nötige Festigkeit gefunden hatte. »Wir binden hier sieben russische Armeen. Wenn die frei werden und den Stoß auf Rostow unterstützen, der schon seit dem achtzehnten läuft, ist die gesamte Heeresgruppe A im Eimer.« Leise fügte er hinzu: »Wir sind die Dame, die der Generalstab opfert, um den Südflügel der Front zu stabilisieren. Wir sind schon lange verloren.«
Schweigen. Gross schenkte ihm einen halb anerkennenden, halb spöttischen Blick. »Aber, Herr Leutnant«, raunte er, »es ist streng verboten, der Truppe so was zu sagen.« Er nickte den anderen boshaft grinsend zu. »Ich hab’s auch läuten hören. Ich denke, man muss nicht über die Maßen strategisch begabt sein, um zu erkennen, dass wir endgültig am Arsch sind.«
Rollo schluckte, und Tränen hilfloser Wut traten ihm in die Augen. Er drehte sich langsam im Kreis, wie ein schwer angeschlagener Boxer, der weiterkämpfen will, obwohl er längst ausgezählt ist.
»Und wenn schon«, stieß er schließlich schwer atmend hervor. »Wir haben hierzubleiben und verdammt noch mal unsere Pflicht zu tun, bis zur letzten Patrone! Da hab ich ’n Eid drauf geschworen. Und ihr auch!« Triumphierend stellte er fest, dass seine Worte zumindest bei Bubi Wirkung zeigten.
Hans kaute an seiner Unterlippe, sah Gross an, doch Gross machte keinerlei Anstalten, ihm zu helfen. Hans fuhr sich nervös übers Gesicht. Seine Finger waren taub vor Kälte, aber er zitterte nicht deswegen. Was sollte aus ihm werden, wie sollte er leben?
Er versuchte, nicht daran zu denken und sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr er sich schämte, als er sagte: »Nach allem, was hier geschehen ist, was wir erlebt und gesehen haben …« Er stockte, weil er sich völlig fremd in seinen Worten fühlte. Das hier war endgültig. Es gab kein Zurück. Er zwang sich, weiterzusprechen, wobei seine Stimme zu einem Flüstern herabsank: »… fühle ich mich an meinen Eid … nicht mehr gebunden.«
Rollo fuhr zusammen. »Na prima.« Verächtlich sah er sich um.
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