Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
öffnete sich zu einem Schrei, doch Fritz presste ihm die Hand darauf und brachte sein Gesicht dicht vor seines. »Wenn du hier bleibst, krepierst du auf jeden Fall. Dann lieber schnell als langsam. Und eins schwör ich dir: Ich nehm noch ’n paar Kettenhunde mit.«
Er wartete, bis seine Worte dur ch das Fieber zu Bubi durchgedrungen waren, dann nahm er die Hand weg. Die anderen rückten einen Schritt weiter vor. Einer hob den Wollschal auf, den der Exekutierte verloren hatte. Fritz zählte mit. Nach dem zehnten Mann fand wieder eine Überprüfung statt. Fritz zählte hastig weiter zu sich durch, zählte noch einmal und sicherheitshalber ein drittes Mal und ließ mit einer scheinbaren Ungeschicklichkeit dem Mann hinter ihm den Vortritt.
Der Mann wurde kontrolliert. An der Echtheit seiner vereiterten Splitterverletzung gab es keinen Zweifel. Dann war Fritz an der Reihe. Er spürte, wie ihn der Arzt musterte, und versuchte, jede Regung und jeden Gedanken zu unterdrücken. Mit einem leichten Zittern reichte er dem Arzt die Passierscheine. Der besah sie sich mit ausdruckslosem Blick. Seine Brillengläser richteten sich wieder auf Fritz.
Bubi begann zu wimmern. Der Arzt drückte auf den Verband, und Bubi schrie auf. Das Gesicht de s Arztes wurde eine Spur freundlicher. »Was ist los? Fieber, mein Junge?«
Bubi nickte.
»Kannst du nicht ordentlich Auskunft geben?«
Fritz sah Bubis schreckgeweitete Augen und wusste, dass alles an einem seidenen Faden hing. »Entschuldigung, Herr Stabsarzt, er hat ’n schweren Schock.« Er zwang sich, weiterzusprechen. »Pan-zerabwehrschlacht. Seinem besten Freund hat’s ’n Unterleib weggerissen …«
Der Arzt brachte ihn mit einem herrischen Wink zum Schweigen. Er richtete sich auf und drehte sich zu den Feldgendarmen um. Fritz glaubte, sein Herz müsste aussetzen.
Der Arzt drehte sich wieder zu ihnen um. Er hatte eine Tablette in der Hand und schob sie Bubi zwischen die Lippen. »Hier, mein Junge, gegen das Fieber.« Sein ausdrucksloser Blick wurde für einen Augenblick wehmütig. »Bist ja bald zu Hause.« Er drückte einen Stempel in ihre Passagierscheine und winkte sie durch. »Passen Sie auf den Jungen auf.«
»Jawohl, Herr Stabsarzt«, sagte F ritz und zog Bubi aus dem Zelt.
Zum ersten Mal trat er gern in die eisige Kälte hinaus. Sie hatten es geschafft. Er hätte lachen, den Kleinen umarmen können, aber um keinen Verdacht zu erregen, grinste er ihm nur verstohlen zu, und das konnte Bubi nicht sehen, weil er die Besinnung verloren hatte.
Fritz zog ihn zu einem Haufe n von gut zweihundert Leichtverwundeten, die im Schneesturm standen und auf das nächste Flugzeug warteten. Hinter ihnen lagen die Tragen mit den Schwerverwundeten im Schnee. Sie waren teilweise zugeweht. Sanitäter, die selber dringend einen Arzt gebraucht hätten, schleppten ständig neue Tragen ins Freie, wahrscheinlich, um in den Zelten Platz zu schaffen.
Die Schmerzensschreie u nd das Wehklagen der Hinzugekommenen wurden rasch leiser. Es hörte sowieso keiner hin. Die Kälte ersetzte das Morphium.
Kein Flugzeug war in Sicht. Auf den Mänteln der wartenden Männer klebten dicke Schichten aus Eis und Schnee. Die Blicke entzündeter, schneeblinder Augen tasteten immer wieder nach den zahlreichen Flugzeugskeletten, die auf der anderen Seite des Platzes zu einem unbeweglichen Spinnennetz zusammengeschoben worden waren; die klobigen Wellblechrümpfe der Ju 52, dazwischen das dünne, lang gezogene Heck einiger Heinkel, die Propellernasen zweier Me 109, die sich wieder zu drehen begannen, wenn man nur lange genug hinsah. Ein Irrbild, das nicht nur trügerisch, sondern vor allem gefährlich war und von dem man sich nicht hinreißen lassen durfte. Denn vor den wartenden Männern war ein Seil gespannt, ein ganz normales Hanfseil, von dem trotzdem unbedingt Abstand zu halten war. Unter und neben dem Seil lagen verkrümmt und steif gefroren diejenigen, die Opfer ihrer Wunschfantasien geworden waren, und hinter dem Seil standen ihre Henker, Feldgendarmerie, die MPi-Läufe auf die Menge gerichtet.
Fritz sah sich suchend nach Hans um, aber er konnte ihn unter den wartenden Offizieren nicht entdecken. Eigentlich hätte er längst da sein müssen. Fritz versuchte sich einzureden, dass er zu erschöpft war, um Angst zu haben, und dass Hans höchstwahrscheinlich in einem der Zelte saß und eine Tasse heißen Tee trank. Aber die b ohrende Unruhe ließ ihn trotzdem nicht los. Zum ersten Mal seit langer Zeit spürte er
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