Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
ihn beschwörend an. Reiß dich zusammen, sagte dieser Blick, wenigstens noch ein paar Stunden!
Der Feldgendarm führte Hans mit nachsichtigem Lächeln zu der wartenden Schlange der Offiziere. Hans bedankte sich schwach. Ein Pionierhauptmann mit geschientem Arm grüßte ihn und bot ihm als Waffenkollegen eine süßlich schmeckende Zigarette an. Man müsste viel mehr Spezialisten ausfliegen, meinte er, und nicht – sein gesunder Arm wies auf die Schwerverletzten im Schnee – diese Todeskreaturen dort. Ob der Leutnant schockiert sei? Hans schüttelte den Kopf. Der Hauptmann zog an seiner Zigarette, blies den Rauch durch Mund und Nase.
»Natürlich sind Sie schockiert«, stellte er sachlich fest. Wäre ihm zunächst genauso gegangen. Abe r man müsse doch endlich mal anfangen, ehrlich und vorurteilsfrei über die Dinge zu sprechen. Da palaverte man immer von Härte, aber wenn es wirklich mal drauf ankäme …
Unter einfacheren Dienstgraden wurden weniger Worte gewechselt. Langsam schlurften die mit Lumpen, gefrorenen Zeltbahnen und Zeitungspapier umwickelten Füße der Männer durch den Schnee. Gebeugte Rücken, erstarrte Gesichter. Die erste russische Granate, die am Rand des Flugfelds einschlug, ließ kaum einen den Blick heben. Nur ein schwaches Zittern lief vom Kopf bis zum Ende des langen grauen Wurms, der sich Schritt für Schritt durch das Sanitätszelt schleppte und trotzdem immer länger wurde.
Hinter jedem, der einschlief oder geschwächt von Blutverlust und Wundfieber, ausgezehrt von Durchfällen seinen Platz nicht mehr verteidigen konnte, schlossen sich unbarmherzi g die Reihen. Heulend tasteten sich diese Bedauernswerten teils auf allen vieren das graue Band des Elends entlang, auf verzweifelter Suche nach einer Lücke, doch Gnade wurde nur in den seltensten Fällen gewährt, und hatte so ein Zurückgestoßener, vom Elend Ausgespiener wider Erwarten das Glück, auf Mitgefühl zu stoßen, so waren dem Großzügigen die Flüche der hinter ihm Stehenden sicher.
So kroch der Wurm durch den Bodennebel, unter Ausscheidung seiner Blut- und Eiterexkrement e an seinen medizinischen Zuchtmeistern vorbei, die mit bewährter deutscher Gründlichkeit selektierten.
Fritz schleifte Bubi auf einer Zeltbahn hinter sich durch den Schnee. Er hatte sie von einem P anzerjäger bekommen, dessen verwundeter Kamerad keine Stunde in der Warteschlange überlebt hatte. Immer, wenn sich Bubis Augen schlossen, zwang er ihn, sich zu erheben und eine Weile auf seinem gesunden Bein zu stehen. Bubi schrie vor Schmerz, wenn das Blut in das geschwollene Bein schoss, aber diese Tortur bewahrte ihn vor dem sicheren Erfrierungstod.
Nach einer endlos langen Zeit gelangten sie unter das wenigstens vor Wind und Schnee schützende Tuch des Zelts. Ein Oberarzt mit randloser Brille und schmalen, blau verfärbten Lippen brachte mit einem kurzen Wink die Schlange zum Stehen. Zwei Männer stellten eine Trage ab. Der Arzt nahm dem Verwundeten trotz seiner Schmerzensschreie den Bauchverband ab, herrschte den Mann an, still zu sein, ansonsten lasse er ihn auf der Stelle zurücktragen. Das Schreien des Verletzten wurde daraufhin zu einem angstvollen Wimmern.
Der Arzt beugte sich tiefer und betrachtete die Wunde genauer.
»Was haben wir denn d a? Das sind ja Schmauchspuren!«
»E-es war … ein Nahkampf«, stammelte der Verwundete, »im Graben.«
Der Arzt drehte sich zu zwe i Feldgendarmen um, die unbeweglich hinter ihm standen. »Klarer Fall von Selbstverstümmelung. Schafft ihn raus!« Verächtlich warf er den losen Verband auf die Wunde.
Der Verletzte presste die Hände auf den Bauch und versuchte aufzustehen. »Herr Stabsarzt, bitte, ich hab Zeugen …«
Ein dritter Feldgendarm drückte ihn beinahe mitleidig auf die Trage zurück, die zwei anderen hoben sie hoch und trugen sie zum hinteren Ausgang.
»Ihr Feiglinge!«, brüllte der Mann seine zwei Kameraden an, die ihn getragen hatten. »Warum sagt ihr nichts?«
Doch die zogen es vor, auf einen Wink des Arztes stumm zu passieren.
Durch die Zeltleinwand sah Fritz, wie der dritte Feldgendarm eine Pistole zog und den Mann auf der Trage erschoss. Die Leiche wurde zu denen einiger anderer deutscher Soldaten gekippt.
Bubi hatte den Oberkörper aufgerichtet und beobachtete die Hinrichtung mit schreckgeweiteten Augen. Dann begann er heftig zu zittern.
»Dir kann nichts passieren«, flüsterte Fritz. »Du hast keine Schmauchspuren, garantiert!«
Bubi zitterte noch heftiger, sein Mund
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