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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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Führungspanzer drehte bei und richtete die Kanone auf den Bunker. Aber er schoss nicht, und Hans, Fritz und Rollo sahen auch den Grund dafür. Es war der Oberst, der in Mantel und Stiefeln aus einem schmalen Bretterhäuschen auftauchte und eine weiße Fahne schwenkte. Das Friedensz eichen bestand aus seiner Unterhose, die er an einen Karabiner gebunden hatte.
    Die Luke des Führungspanzers wu rde geöffnet, ein russischer Offizier kletterte heraus und reichte dem Oberst nach kurzem Wortwechsel eine Hose und kurz darauf eine Zigarre. Der Oberst bedankte sich und begann zu rauchen. Sagte wohl etwas Nettes über den Tabak, während die restlichen Panzer nach getaner Arbeit konzentrisch auf ihn zufuhren. Ein gefangener Stabsoffizier war wertvoll. Er garantierte höhere Zuteilungen, unter Umständen Beförderung, vielleicht sogar Urlaub.
    Durch die Schneeschleier schleppten sich Hans, Fritz und Rollo davon, während dem Oberst in den Führungspanzer geholfen wurde. Er würde sich mit Sicherheit hervorragend zur Umerziehung eignen.

 
     
     
     
     
     
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    W eißes, wehendes Chaos. Schnee knirschte, Knie zitterten, müde Füße schleppten die Last ausgemergelter Körper. Frostweiße Nasen. Abfallende Ohren. Gefrierende Tränen. Lallen. Sie wanderten über apokalyptisches Land, und ihre Gedanken wanderten mit, graue Raupen, die weg von der Normalität in Abgründe krochen, die ihnen so unendlich schienen wie die Leidensfähigkeit ihrer Körper.
    In einer ausgebombten Höhle entleerten sie ihre Gedärme. Bekämpften blutige Ruhr mit den in Fetzen gerissenen Soldbüchern der von ihnen erschossenen Feldgendarmen.
    Wieder taumelten sie durch den windgepressten Schnee, und Schweißtropfen gefroren auf ihrer Stirn, rannen über ihre Wangen und bildeten Stalaktiten neben dem Kinn.
    Hans sah Bilder in Rot und Weiß. Ein tiefer roter Schnitt, den er sich als kleiner Junge mit dem Rasiermesser seines damals bereits verstorbenen Vaters zugefügt hatte. Er hatte geglaubt, auf diese Weise Verbindung mit dem toten Vater aufnehmen zu können, eine Art Blutsbrüderschaft mit dem Jenseits zu schließen. Er erinnerte sich an sein tiefes Erstaunen über den fehlenden Schmerz bei so viel Blut. Er blieb stehen, riss sich den bereits wieder zerlumpten Fäustling des Majors von der Hand und suchte zwischen den peitschenden Schneeflocken nach der Narbe. Die Narbe verlieh ihm wieder seine Identität. Er war noch er selbst.
    Zehen, Füße, Beine, Hände, Wangen, alles war gefühllos. Es war unmöglich zu gehen, auch nur noch einen Schritt zu tun, sobald man sich darauf konzentrierte. Nur der Traum, der unter monotonen Wehen geboren wurde, der sich aus der Erschöpfung ins graue Licht zwängte, verlieh ihm die Fähigkeit weiterzugehen. Es war nicht mehr er, der da ging. Es war eine Maschine aus Blut, Fleisch, Eiter und Knochen, ein biologischer Organismus, dessen Notaggregat noch funktionierte.
    Blumen, die blutig aufblühten auf lakenweißen Wiesen , Frauenkörper aus Eis auf den erstarrten Wellen eines Sees, zerfetzte Fratzen mit auseinandergebrochenen Gesichtern knirschten unter seinen Stiefeln, eine schwarz gefrorene Gesichtshälfte schleuderte einen stummen Schrei nach ihm, zwei Beine zogen durch seinen erstarrten Blick, die ohne Stiefel wie ein Siegeszeichen des Todes starr und auseinanderstrebend zwischen zwei ineinander verkeilten Sturmgeschützen aufragten. Und überall Wolken von Raben, die sich über die Augen der Toten hermachten, ehe die Kälte sie zu Eisklumpen gefror. Mit stumpfer Sehnsucht verfolgte er ihren schweren Flügelschlag. Die Gnade, in den Zustand eines Tieres zurückzufallen, war ihm noch nicht vollständig gegeben.
    Plötzlich, mitten in der Schneewüste, wie eine Nussschale im Ozean des Sterbens, eine aufgespannte Zeltplane und dahinter zwei Mann und ein MG. Sie tauschten Sätze, die merkwürdig normal waren. Die beiden Soldaten waren Mitglieder der 24. Panzerdivision. Für ein paar Krümel Tabak erfuhren sie, dass sich die große Fluchtstraße in die Stadt ungefähr zwei Kilometer südlich befand. Die beiden Soldaten waren bereits zweimal von russischen Panzern überrollt worden. Ihnen war nichts geschehen, einmal hatten sie sogar Tabak bekommen. Froh, endlich in Gefangenschaft zu sein, hatten sie den deutschen Gegenstoß verflucht, bei dem die Russen sie zurückgelassen hatten. Sie hofften, bald endgültig und kampflos in russische Gefangenschaft zu geraten. Das Verbindungskabel zu ihrer Gefechtsstelle

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