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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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Verzweiflung, in Wahnsinn zu tun, auch wenn es viel zu spät war.
    Ein neuer Feuerschlag, bedrohlich nahe in ihrem Rücken, ließ sie auf eine Senke hinter einem v erbrannten, noch glühenden Wäldchen zutaumeln. Sinnigerweise hatte es einmal den Namen Blumentopf getragen und war eines der letzten deutschen Artillerienester zwischen Goroditsche und Stalingrad gewesen. Jetzt war es von Raketenschlag und Panzerbeschuss zu einem mit Geschützteilen, verkohlten Balken und rosigem Geschlinge gefüllten Rußtopf gefetzt.
    Unter dem Heranheulen einer neuen Geschossserie stolperten sie in einen solide mit Eisenbahnschwellen und Bauholz abgestützten Bunker, der tief in den Fuß der Senke gehauen war.
    Sie fielen eine schmale Treppe hinunter, während hinter ihnen die Erde aufbrüllte und die Sprengstücke heulten, direkt in das Reich von Oberst Jäger, der, dem Ernst der Stunde angemessen, weißhaarig, schmalgesichtig, würdevoll hinter seinem Kartentisch saß und, den Telefonhörer ans Ohr geklemmt, die üblichen Sentenzen von sich gab:
    »Wann kapituliert wird, sage ich . Durchhalten, ja. Bis zur letzten Patrone. Das ist barmherziger als die Kriegsgefangenschaft. Wir sterben wie Männer!«
    Er knallte den Hörer auf und starrte die drei abgerissenen, schneebedeckten, nicht mehr menschenähnlichen Gestalten in einer Mischung aus Widerwillen und Verwunderung an, aber auch für diese Situation hatte er die passenden sprachlichen Versatzstücke:
    »Da hört sich doch alles auf! Was fällt Ihnen ein? Wer sind Sie überhaupt? Machen Sie gefälligst Meldung! Haben Sie die Sprache verloren, Herr!«
    Er bemerkte, dass seine Hände in Strümpfen steckten, die er, dem Leben noch zugeneigt, nach der traurigen Besichtigung des Wäldchens Blumentopf über dem Ofen getrocknet hatte. Während des erneuten Beschusses und a ls immer mehr katastrophale Meldungen von der Front eingetroffen waren, hatte er eine unscheinbare weiße Kapsel auf der Mitte seines Kartentisches platziert, bezeichnenderweise in der Kesselmitte, direkt auf dem verlorengegangenen Flugplatz Pitomnik.
    Die drei Kreaturen hatten ihn beim schicksalhaften Schwanken gestört. Ärgerlich wischte er sich die Strümpfe von den Händen. Musste mit ansehen, wie einer dieser menschlichen Müllhaufen, ohne Haltung, ohne ein Wort, zu e inem Teller mit einem unversehrten Schinkenbrot ging, es mit seinen dreckigen Klauen hochnahm, die Hälfte abbiss und weiterreichte.
    Der Oberst brüllte, wollte nach seiner Pistole greifen und ließ es, als ihm einfiel, dass er sie seinem Adjutanten für den Fronteinsatz geliehen hatte. Er wollte aufstehen und ließ auch das, als ihm einfiel, dass seine Hosen auf dem Ofen trockneten. Er verfolgte mit verkniffenem Mund, wie sich die Gestalt in dem blutverschmierten Pelzmantel vor ihm über den Tisch beugte und gegen seine sorgfältig bereitgelegte Zyankalikapsel schnippte. »Allzu rosig scheint die Lage ja nicht zu sein.«
    Der Oberst riss die Kapsel hastig vom Tisch. Der leere Brotteller fiel klirrend zu Boden. »Lassen Sie das!«
    Sein Atem ging schwer. Nicht nur der Teller, seine Autorität, seine Welt lag in Scherben.
    »Gehen Sie!«, stieß er hervor. »Und kämpfen Sie für Ihre Seele, falls Sie noch eine besitzen. Sie sind ja nicht fähig, zu begreifen, was in einem deutschen Offizier mit Idealen zu dieser Stunde vorgeht!« Ehe sein Gegenüber ihm darauf antworten konnte, wurde das Gewölbe von mehreren Einschlägen erschüttert. Der Oberst legte die Kapsel wieder vor sich auf den T isch und fixierte sie, der jahrhundertelangen Tragik der deutschen Geschichte gedenkend. Die drei Marodeure beschloss er zu ignorieren.
    Nicht ignorieren konnte er de n Leutnant in zerrissener Stabsuniform, der mit tief aufgeklafftem Gesicht blutüberströmt in den Raum stürzte und betont zackig grüßte; angesichts der Situation der blanke Hohn.
    »Herr Oberst, Unteroffizier Schneider lässt anfragen, wie lange Sie noch für Ihre Entscheidung brauchen. Kampfgruppe Dellwang zusammengehauen, unsere Ari zerfe tzt, russische Panzerspitzen erneut rechts und links Goroditsche durchgebrochen, Lage aussichtslos …«
    »Halten Sie den Mund, Helly«, fuhr ihn der Oberst an. »Wie die Lage ist, bestimme immer noch ich!«
    Der Fernsprecher rasselte, Helly nahm hastig ab.
    »Kampfgruppengefechtsstand J äger.« Er reichte den Hörer weiter. »Feldwebel Kalmeit. Sie können sich auch nicht mehr halten.«
    Der Oberst riss ihm den Hörer aus der Hand. »Verdammt noch mal,

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