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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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ein in dieses Förderband des Todes, das sich in schleppendem Takt auf die Ruinenstadt Stalingrad zubewegte, zur endgültigen glorreichen Vereinigung der Stein- und Menschenwüsten. Es war nicht einmal ein ebenes Band, das in den Untergang führte. Beschwerlich bis zuletzt, kroch es über Bodenwellen, tauchte in steiler Bahn in eine Steppenschlucht ab oder durchwanderte in engen Schleifen die steilen Ufer eines ausgetrockneten Flussbetts.
    Aufheulende Motoren ließen si e die Köpfe drehen, keine russischen Panzer, aber nicht viel besser, deutsche Lkws, behängt mit Verwundetentrauben, schlitterten an ihnen vorbei, fuhren rücksichtslos Schwerverletzte zusammen, die sich mit zwei Stöcken auf Fellen übers Eis zogen, verschwanden schleudernd hinter einem Abhang, um in eine aus der Luft zerbombte Panzerabteilung zu krachen, die in letzten verzweifelten Atemzügen Tross- und Sanitätsfahrzeuge links und rechts die Hänge hochgeschoben und umgeworfen hatte.
    Wild schaufelnde Bestien, wutverzerrte Fratzen. Weiter. Verreckt für den Rausch des kollektiven Größenwahnsinns. Weiter. Verfault für die Milliarden der deutschen Schwerindustrie, längst krisensicher und in Fremdwährungen im Ausland gelagert. Weiter.
    Das Schneetreiben legte sich, stückweise rissen Wolken und Rauchschleier auf. Neue Nebenfl üsse ergossen sich in den Hauptstrom des Todes. Ausgemergelte Männer schleppten Schlitten, leichte Geschütze, verletzte Kameraden auf Zeltbahnen hinter sich her. Nicht immer freiwillig. Hier und da sah man eine gegen das Lasttier gezückte Pistole, Eisen, Holzknüppel. Hackordnung der Vernichtung.
    Ein Verwundeter wankte an Hans vorbei, die Arme seltsam starr im Ellenbogen abgewinkelt und in die Höhe gereckt, stolperte über eine Leiche, fiel, und seine erfrorenen Unterarme splitterten auf dem Eis wie Glas. Ein neuer, die abschüssige Straße hinabrutschender Lkw, die Gesichtsöffnungen des Mannes schreckgeweitet. Hans und Fritz rissen ihn knapp vor den Rädern beiseite, wollten weiter, doch der Mann hielt Hans mit den Beinen fest.
    »Erschieß mich … Bitte, erschieß mich …«
    Wieder ein Gesicht, das vor Schmerzen und Verzweiflung zitterte. Und auch er hatte eine letzte Botschaft.
    »Zettel in meiner Tasche, sch reib meiner Mutter … Bitte Kamerad, mach Schluss …«
    Der Verwundete versuchte wimmernd mit den Zähnen an seine Rocktasche zu gelangen. Hans kniete sich neben ihn, zog das schmutzstarrende, verklebte Soldbuch aus der Tasche. Fritz hielt dem Sterbenden einen brennenden Zigarettenstummel zwischen die Lippen. Hans zog seine Pistole. Es war die barmherzigste Tat, die es unter diesen Umständen geben konnte, aber es war nicht Barmherzigkeit, die ihn die Tat ausführen ließ. Er entsicherte die Waffe.
    »Nicht«, flüsterte Rollo heiser.
    Die Augen des Leutnants waren starr, vereist wie seine Gesichtsmaske.
    Der Verwundete fuhr mit den Stümpfen über seine Lumpenstiefel. »Danke, Kamerad. Vergelt’s Gott …«
    Fritz und Rollo stellten sich als Sichtschutz vor die beiden, Hans drückte ab. Der Knall verlor sich im Donnern der russischen Artillerie.
    »Wenn’s einen Gott gäbe«, sagte Hans und steckte die Pistole zurück, »würde ich ihn erschießen. In Notwehr.«
    Er ging weiter. Fritz folgte in seinem Windschatten. Rollo zögerte. Dann beugte er sich nach unten, zog den Rest der Kippe zwischen den erstarrten Lippen des Erschossenen hervor und sog gierig die letzte Glut heraus, während er Fritz hinterhertappte.
    Während seine Füße längst von alleine gingen, starrte Hans stumm auf das Eis der Straße, unter dem in den ersten, mageren Sonnenstrahlen ein grausiges Mosaik schimmerte. Zerfetzte Leiber, zermalmte Gesichter und Uniformteile, über die der Rückzug unbarmherzig rollte und immer neue blutige Stempel hinterließ. Die Gesichter seiner Opfer zogen unter ihm vorbei. Er grinste ihnen zu, stapfte über sie hinweg. Seine kleinen persönlichen Verbrechen verloren sich im gigantischen Verbrechen des Krieges. Die Gesichter überholten ihn, legten sich wieder vor ihn, und er trottete erneut über sie hinweg. Alles zerschießen, zerschlagen, in schwarze Unendlichkeit einschmelzen. Im Takt seiner Schritte:
    Töten aus Recht, aus Pflicht, aus Hass, aus Notweh r, aus Barmherzigkeit, aus Spaß. Töten aus Gewohnheit. Töten als Droge. Töten als Rausch, Töten als Sucht.
    Die Hölle lag vor dem Tod. Nach dem Tod konnte es nur besser werden. Stummes Gelächter quoll aus seinem Mund. Töten mit der

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