Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
Vom Netzwerk:
hatten sie durchgeschnitten.
    Rollo fragte, ob sie nicht lieber mitkommen wollten.
    »Nee«, sagte der eine, »wir sind nicht mehr so gut zu Fuß.« Er schlug die Pferdedecke beiseite, die über den Füßen seines Kameraden lag. Sie waren mit blutigen Verbänden umwickelt. Der Soldat versuchte ein Lachen. »Wir bleiben hier und üben schon mal die Internationale.«
    »Viel Glück«, murmelte Fritz.
    Sie schleppten sich weiter. Nach wenigen Schritten hörten sie das Brummen von Panzermotoren. Sie warfen sich in den Schnee. Es waren zwei russische Panzer, die dicht an dem MG-Posten vorbeifuhren. Der war aufgesprungen, winkte mit einem weißen Tuch und hinkte schreiend den beiden Panzern hinterher. »He, wir ergeben uns, wir ergeben uns!«
    Die Panzer fuhren noch fünfzig Meter weiter, dann drehten sie um und fuhren zurück, ohne Notiz von dem einsamen deutschen Soldaten zu nehmen, der schreiend seinen weißen Fetzen schwenkte und hinter ihnen herstolperte. Fluchend blieb er schließlich stehen. Die Ungetüme verschwanden im Nebel. Der Soldat kehrte an seinen Platz zurück, und Hans, Fritz und Rollo schleppten sich weiter. Nach wenigen Metern waren sie der festen Überzeugung, sie hätten dieses Ereignis nur geträumt.

 
     
     
     
     
     
    80
     
     
    L angsam näherten sie sich der großen Todesstraße. Soldatenhaufen zogen vorbei, wie Rauch stiegen sie zwischen den schneeverwehten Hügeln auf und trieben über das Feld, und eine Rauchschwade waren auch die drei ehemaligen Sturmpioniere, Elitesoldaten, zum Sterben in vorderste Front gestellt. Sie wankten, innerhalb weniger Wochen zu Greisen mutiert, im Todesschwarm der anderen gegen den Wind, und was keiner feindlichen Kugel gelungen war, das gelang jetzt den Sturmböen; sie wurden wie Schilf zu Boden gedrückt, richteten sich schwankend wieder auf, wurden auseinandergeweht und ruderten, vor Erschöpfung trunken, mit den Armen, um wieder zusammenzukommen. Sie klammerten sich aneinander fest, und im Windschatten des Kräftigsten, der immer noch Fritz war, torkelten sie auf das graue Band der Straße zu, während in ihrem Rücken der Regenbogen der Vernichtung leuchtete.
    Der ehemalige Unteroffizier Rohleder blieb auf einmal stehen und drehte sich um, starrte geban nt zu dem orange bewölkten rostroten Horizont, dem Sonnenuntergang der sechsten Armee. Und seine zersprungenen, kältezerrissenen Lippen murmelten andächtig etwas von einem »ganz schönen Feuerzauber«, und vielleicht wäre er so stehen geblieben, seiner Moral und Kräfte beraubt, und zu Eis erstarrt, wenn Fritz ihn nicht weitergetrieben hätte, Fritz, der als Einziger noch daran glauben konnte, dass alles irgendwie gut werden würde, wenn sie nur die Stadt und das dort gebunkerte Fressen erreichten.
    Im grauen Licht des Tages schneite es Asche auf ihre vom Schnee weißen und steif gefrorenen Lumpenmäntel. Das graue Band vor ihnen rückte schrittweise näher, die große Heerstraße, die einmal den Flugplatz mit der Stadt verbu nden hatte. Das Grollen der russischen Artillerie vermischte sich mit dem Geräusch von Lkw-Motoren, mit deutschen Flüchen, Schmerzensschreien, Hilferufen; die Worte »Mutter«, »Gott« und »Scheiße« kamen am häufigsten vor. Die drei tasteten sich einen Abhang hinunter. Ihre vom Schneesturm rot entzündeten Augen nahmen zunächst verschwommen, dann klarer die Karawane des Grauens vor sich wahr.
    Die längst geschlagene Armee, i hre an Körper und Geist verkrüppelten Reste, versuchten sich vor den russischen Panzern in die Trümmerstadt Stalingrad zu retten. Verzweiflung, Panik in Zeitlupe, denn zu wilder Flucht war keine Kraft, kein Sprit und kein Weg. Wagen, Panzer, Geschütze, Menschenteile, ineinander verkeilt und zu erstarrten Blechlawinen getürmt.
    Pferdekadaver, nicht von Raben, von menschlichen Wegelagerern des Todes bevölkert, ausgebeint, die aufgedunsenen, gefrorenen Leiber auseinandergerissen und wie von Schakalen im Schnee verstreut, die Schädel mit Eisenteilen aufgebrochen und das Gehirn auf Fingern und Mäulern verstreut. Und daneben, zur Seite gepflügt, Geprellte, Gequetschte, von Deichseln Gespießte, und an ihnen vorbei, den Blick nicht mehr auf den Nacken des Vordermannes, sondern auf die mit Lappen umwundenen Beine gerichtet, mit zähem Schritt, jenseits von Wille und Vorstellung, so sah der ehemalige Leutnant Hans von Wetzland, grau wie die Maden in seinen Träumen, die Trümmer der deutschen Infanterie. Und auch er reihte sich mit seinen Gefährten

Weitere Kostenlose Bücher