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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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Gleichgültigkeit einer Naturgewa lt. Der Schnee unter ihm verwandelte sich in flüssiges Blei, in dem seine Stiefel festzukleben drohten. Schneeflocken durchbohrten ihn. Das Blei stieg durch die Füße bis in seinen Kopf, erstarrte in seinem Schädel; Gedanken verröchelten im Takt seiner Schritte. Der Krieg fraß sie auf, er fraß ihre Eigenschaften, ihr Höllengelächter, ihr Schreien und Weinen, selbst ihren Schmerz. Er fraß alles, schlang es hinunter und spie nur noch gleichförmige Bündel jenseits aller Empfindungen wieder aus, und es war unermesslicher Hohn, dass er ihnen die lebensnotwendigsten Körperfunktionen noch für eine Weile ließ.
    Hans’ Blick wurde emporgehoben von einer knienden Fratze, die ihm vom Wegesrand her zuwinkte. Seine Augen verengten sich in mechanischem Interesse. Es war kein Winken. Der Mann hatte einen seiner verfaulten Handstümpfe in den Mund geschoben und riss sich bei lebendigem Leib das eigene Fleisch von den Knochen. Seine Augen, ins Weiße verdreht, stierten in etwas, das nur völlige Dunkelheit sein konnte. Die zwö lf Stationen der Hölle. Auf welcher Stufe befand er sich?
    Die Dämonen seiner Fantasie un d der Wirklichkeit flossen ineinander und beflügelten seinen Schritt. Der Todpunkt des Gewissens war durchbrochen, und mit furchtbarer Freude stürmten die Gedanken in die endlosen Abgründe, bis es kein Denken mehr gab. Auf dem Gesicht ein unwirkliches Lächeln, zogen die Bilder des Grauens wie Wolken unter ihm hinweg. Die Materie wurde Licht, und er schritt durch sie hindurch; tastete keuchend und mit fahrigen Bewegungen nach seinem Gesicht, den Armen, dem Brustkorb. Er war noch da. Vollständig da. Erleichtert spürte er sein Herz pochen.
    Zyklische Illusion der Erlösung. Es war billig, sich auf außerfleischliche Möglichkeiten zu kaprizieren. Das Fleisch war alles, was man war, und es war genug. Herrlich. Noch nie hatte er seinen Körper so geliebt; bis in jede Faser er füllte ihn das verzweifelte Verlangen, ihn zu erhalten, ihn überleben zu lassen. Er durfte an nichts anderes mehr denken. Er konnte es, wenn er wollte.
    Und wieder eine Steigung, zu st eil für ihre ausgebrannten Glieder, ihre stechenden, verkrampften Herzen, und an den Wegesrändern, auf Mitfahrgelegenheiten lauernd, neue Wolken von Todesgesichtern. Sie lehnten in den Luken ausgebrannter Sturmgeschütze, kauerten Schnapsballons leerend in zerfetzten Sanitätsfahrzeugen, saßen auf den geplatzten Rindslederkoffern eines umgestürzten Stabswagens. Ihre Augen und ihre bereitgelegten primitiven Mordwerkzeuge verrieten, auf welchem Weg man sich einen rettenden Platz zu verschaffen gedachte.
    Rollo war schneller als sie alle. »Los, rauf!«
    Er stürzte einem mit Schwung herankeuchenden Lkw entgegen.
    Fritz packte Hans am Arm und riss ihn aus seinen wirren Träumen. Gemeinsam stolperten sie auf den Lkw zu, hinter ihnen die erschöpfte Meute.
    Der Beifahrer eröffnete kommentarlos das Feuer. Fritz riss Hans mit sich zu Boden und rutschte au f dem Bauch auf die durchdrehenden Räder des Lastwagens zu. Hinter ihnen stürzten Getroffene auf das Eis, der Rest kroch in Deckung.
    Nur Rollo nicht. Mit derselben blinden Wut, mit der er früher feindliche Panzer geentert hatte, sprang er jetzt, die Pistole in der Hand, auf das Trittbrett des Lastwagens und schoss durch das Blech. Der Kopf des Beifahrers sackte gegen die Frontscheibe. Rollo riss die Tür auf, zerrte die Leiche heraus und hielt dem Fahrer die Waffe an die Schläfe. »Anhalten!«
    Er sah eine goldumrandete Brille und die silbernen Schulterklappen eines Zahlmeisters. »Hock dich hin und halt die Fresse!«
    »Hau ab!« Rollo hieb dem Fahrer die Waffe auf den Kopf, doch er war so schwach, dass er nur wenig Wirkung erzielte.
    Der Fahrer wehrte sich, aber auch er hatte keine Kraft mehr, um Rollo ernstlichen Schaden zufügen zu können.
    Der Lkw erreichte schlingernd den Scheitelpunkt der Steigung. Hans lief mit letzter Kraft neben dem Führerhaus her, riss die Fahrertür auf und den Bremshebel hoch. Rollo bekam eine Hand frei und hielt dem Fahrer die Pistole an den Kopf. »Raus!«
    Hans und Rollo warfen den Zahlmeister aus dem Führerha us. Ein vierradgetriebenes Kfz 15 donnerte mit blockierenden Reifen von hinten auf ihren Lastwagen.
    Fritz keuchte herbei, kletterte ins Führerhaus, stieß Hans und Rollo auf den Beifahrersitz. Rollo jagte einige Kugeln in den von hinten heranschwärmenden Pulk grauer Gespenster, die sich daraufhin um einen Platz in dem

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