Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
Vom Netzwerk:
Vorstoß über die Aisne.
    Dann Russland. Wieder Vorstoß. Diesmal über Bialystok, über Zelwa, Stolpce, Minsk, zum Dnepr. Vorstoß bis Smolensk. Vorstoß über die Desna. Vormarsch auf Moskau. Zurückgeschlagen bei Jepifan und Tula. Da war der Krieg bereits verloren. Trotzdem wieder Vormarsch. Kaukasus. Abdrehen nach Stalingrad.
    Jetzt wurde eine letzte Zigarette daraus. Hans reichte sie Gross, und Gross reichte sie Fritz. Fritz blinzelte durch den Qualm auf die Straße, reichte Gross die Zigarette zurück, warf einen kurzen Blick auf die Stiefel von Musk.
    »Hast ihm bis zuletzt die Treue gehalten.«
    Gross inhalierte gierig. »Ja, wir kommen einfach nicht voneinander los. Hass ist stärker als Liebe.«
    Er tastete kurz nach Musks Schlagader. Starrte ihn mit reglosen Augen an. Fast schien es, als hoffte er, Musk würde zu sich kommen, um ihm zuzuhören. Ein teuflisches Grinsen glitt über sein langsam auftauendes Gesicht.
    »Schade, dass er’s euch nicht selbst erzählen kann. Wirklich schade. Müsst mit mir vorliebnehmen, obwohl ich nur Nebenfigur war. Ein Statist des Todes.«
    Er sog gierig an einer neuen Zigarette, gedreht aus einer der Adressen, die keiner von ihnen mehr erreichen würde, und der Rauch schien sich in seinen Lungen in Bosheit zu verwandeln. Seine Augen glitzerten.
    »Ihr habt hoffentlich alle vom ebenso berühmten wie einsamen Beispiel unseres tapferen General s gehört, der mit seinem Karabiner aufrecht stehend auf der Ringbahn die feindliche Kugel erwartete und bekam. Natürlich wollte unser tapferer Hauptmann hier seinem Beispiel folgen. Leider ist er im entscheidenden Moment ausgerutscht.«
    Er ließ ein hohles Lachen hör en. Hans sah ihn an. Seine Mundwinkel begannen ebenfalls zu zucken. »Du hast ihn umgeworfen.«
    »Ich hab ihm das Leben gerettet. Mit einem Faustschlag. Hat ihn einen halben Zahn gekostet.«
    Ein kurzer fauchender Laut presste sich aus ihren Mündern.
    »Ihr seid Arschlöcher«, fl üsterte Rollo. »Verdammte Arschlöcher!«
    »Ach, ja?« Gross packte ihn am Arm. »Glaubst du wirklich, ich hätte ihn so abtreten lassen sollen? O nein«, knirschte er durch aufeinandergebissene Zähne und zitterte am ganzen Leib. »So billig kommt er nicht davon. Er wird gemeinsam mit mir hier zugrunde gehen, weiterleben bis zum Schluss, bis das Fieber sein verdammtes Heldentum aus jeder Faser gebrannt hat. Er wird genauso elend verrecken wie wir. Das wenigstens ist er uns schuldig.«
    Fritz spürte, wie ein Schauder durch seinen Körper fuhr. Es war nicht die Kälte. Er hätte Musk im Schnee liegen lassen, aber das, was Gross mit ihm machte, war schlimmer.
    »Du … du kannst ihn nicht zum Leben zwingen«, murmelte Rollo.
    »Brauch ich jetzt auch nicht mehr«, sagte Gross gelassen. »Jetzt ist er längst soweit wie wir. Er will leben. Frag ihn doch.«
    »Geh weg von ihm.« Rollo zog seinen Hauptmann wie eine große, schlaffe Puppe auf seinen Schoß. Der Hauptmann begann vor Schmerzen zu wimmern.
    Gross verzog die Lippen. »He, Herrmann, alter Freund. Schau mal, wer dir noch alles das Leben gerettet hat.« Er grinste. »Das wird er mir nie verzeihen.«
    Gross’ Gesicht verfiel mit einem Schlag, als hätte eine Droge aufgehört zu wirken, und eine stumpfe Trauer erschien darin. Er hatte offensichtlich nicht mehr die Kraft, sie zu verscheuchen.
    »Jetzt sind w ir endlich quitt«, murmelte er.
    »Lass ihn in Ruhe«, sagte Rollo leise.
    Musk bewegte wieder die Lippen. »Der Fuß … Verdammter Fuß …«, wimmerte er kaum verständlich.
    »Ich zieh ihm mal die Stiefel aus«, sagte Rollo.
    »Das würd ich nicht tun.«
    Musk brüllte kurz auf, wimmerte wieder. Die Schmerzen fuhren in unregelmäßigen Wellen durch seinen Körper, der sich jedes Mal aufbäumte. Paradoxerweise hielt Gross ihn jetzt fest, flüsterte tröstende Worte, strich ihm durchs Haar.
    Er hat gelogen, dachte Hans, er hat wieder mal gelogen. Oder er weiß es nicht mehr. So wie ich. Ich weiß auch nicht mehr, was wahr ist und was nicht.
    Rollo stieß Gross’ Hand weg. »Geh weg da, ich mach das.«
    Er beugte sich nach unten und zog Musk vorsichtig den rechten Stiefel aus. Es ging nicht besonders schwer. Er zog den Schaft über den Fuß, verhielt mitten in der B ewegung, starrte auf blanke Knochen. Haut und Fleisch steckten im Stiefel. Rollo würgte.
    »Ich hab dir doch gesagt, lass das«, sagte Gross ruhig.
    Hans blickte in Musks Augen, der seinen Fuß ausdruckslos musterte. Die Stimme des Hauptmanns war dünn und seltsam

Weitere Kostenlose Bücher