Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
klar, als er sagte: »Ich habe mit meiner rechten Seite einfach kein Glück.«
Dann verlor er wieder die Besinnung.
Hans entdeckte ein Rotkreuzzelt in einer schmalen Schlucht neben der Straße, einsam in der Schneewüste. Er machte Fritz darauf aufmerksam, und der nickte nach kurzem Zögern und lenkte den Lkw auf die verwehte Zufahrt.
Sie hatten den Hauptmann gehasst. Sie hätten ihn im Schnee seinem Schicksal überlassen. Und jetzt würden sie alles tun, um seine Schmerzen zu lindern. Es war ein Widerspruch, der ebenso zum Krieg gehörte wie sie selbst.
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R und um das Zelt lagen die Verwundeten, und an seinen Seiten waren die Toten wie Brennholz aufgestapelt. Leichenwände. Sie boten mit Sicherheit einen wirksameren Schutz gegen den Wind als die dünne Zeltwand.
Fritz stoppte den Lastwagen mit laufendem Motor vor dem menschlichen Kopfsteinpflaster. »Beeilt euch, sonst geht’s zu Fuß weiter!«
Hans, Rollo und Gross stiegen aus und schleppten den bewusstlosen Hauptmann zum Zelteingang. Die wenigen Verwundeten, die die Fahrt überlebt hatten, krochen in der Hoffnung auf Hilfe von der Ladefläche.
Wie Totengeister erschienen zw ei Sanitäter, von blutigen Leintüchern umweht, und legten einen neuen Schwerverwundeten in den Schnee.
»He, was soll das?«, krächzte Rollo. »Der lebt ja noch!«
Einer der Sanitäter wandte den Kopf. Sein Gesicht war nur noch eine knochige, grinsende Maske. »Bist ’n schlaues Köpfchen.«
Sie wollten ins Zelt zurück. Hans hielt einen am Arm fest. »Habt ihr keinen Platz mehr?«
»Keinen Platz, kein Personal, keine Medikamente. Hier draußen sterben sie wenigstens schnell. Im Zelt schreien sie noch Stunden. Wenn ihr ihm ’n Gefallen tun wollt und noch ’ne Kugel übrig habt, knallt ihn ab.«
Der ehemalige Leutnant starrte d en Sanitäter an wie ein Spiegelbild, das er im gefrorenen Matsch der Heerstraße zurückgelassen geglaubt hatte. Es hatte sich aus dem Eis gelöst und stand nun vor ihm. Mit einer unsichtbaren Bewegung trat es wieder in ihn ein, während sich der Mann losriss und mit seinem Kollegen in der dunklen Höhle des Eingangs verschwand.
Hans starrte zitternd auf den Brei aus Leibern, der sich an den Rändern der Schlucht hochwälzte. Er würde dieses Schauspiel nicht demütig hinnehmen. Er würde die Bilder, die sich ihm boten, zerstören, wie ein rasender Künstler, der sich mit dem Messer auf die Leinwand stürzt!
Er riss die Pistole aus der Jacke, drehte sich um die eigene Achse, und das Bild verschwamm im Strudel einer erstickenden Übelkeit. Gedanken spritzten in seinen Kopf: Es sind die Falschen, die Opfer, nicht die Henker … Ich will nicht, muss es t un … Ganze zwei Kugeln … Speisung der fünftausend mit ganzen zwei Kugeln … Karikatur des Erlösers … Keine Kraft, Wunder zu tun, Wunden zu reißen … Kann nicht mehr töten, kann nicht mehr …
Aus der Vergangenheit taumelte ihm der vom Töten erschöpfte SD-Mann entgegen. Das war es, was aus ihm geworden war, und es waren nicht nur die gleichen Worte, die er im Chor mit dieser sadistischen Fratze immer wieder hervorstieß: Kann nicht mehr, kann nicht mehr …
Das rote Kreuz auf der Zeltwand teilte sich. Zwei Sanitäter rollten einen Kübel ins Freie, und vor den Augen des Leutnants drehte sich ein Gestrüpp aus Fingern und Zehen. Aus den Winkeln des Zelts, aber auch aus Höhlen im Schnee, wankte es gebeugt heran, kroch auf allen vieren, stumm und unerbittlich. Diese Menschen hatten keine Hände mehr, sondern krummgefrorene Stümpfe, keine Gesichter, sondern Fratzen, keine Gefühle, sondern Instinkte; deswegen lebten sie noch. Sie verhielten im Halbkreis vor den Sanitätern, in den Schnee geduckt in einer Mischung aus Gier und Angst. Einer der beiden versuchte sie mit einem Stiefeltritt zu verscheuchen. Ein leises Knurren war die Antwort.
»Mensch, haut ab!«
Sein Kollege, weniger empfindlich, leerte den Kübel zwischen die Soldaten. »Komm, scheiß drauf.«
Offensichtlich war es nicht die erste Fütterung dieser Art. Er grinste verzerrt. »It’s teatime, darling.«
Sie verschwanden wieder mit dem leeren Kübel von der Bühne des Todes. Die Soldaten balgten sich im Schnee um die blutigen Gliedmaßen. Als das rote Kreuz wieder hinter den Sanitätern zusammenfiel, verstopfte sich Hans den Mund mit den Fingerknöcheln, um ein unbändig in ihm aufsteigendes Gelächter zurückzudrängen.
»Ich dachte, es ist ein Traum«, stammelte er, »nur ein verdammter
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