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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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Traum.«
    »Ist doch längst scheißegal, was es ist«, murmelte Rollo. Er steckte Hans die Pistole zurück in die Jacke. »Sparen Sie sich die paar lumpigen Kugeln für unser Depot.«
    »Ja«, raunte Gross, »man muss sich heutzutage entscheiden, ob man noch ein letztes Mal der Barmherzigkeit dient oder seinem Magen.«
    »Ich bin wirklich froh, Sie wieder an meiner Seite zu haben«, sagte Hans.
    »Ich weiß.« Gross musterte die abgesägten Knochenreste, um die immer heftigerer Streit entbrannte. »Jedenfalls muss hier irgendwo noch so was wie’n Arzt sein.«
    Sie hoben den Hauptmann vom Leichenteppich und trugen ihn zum Zelteingang. Zwei bewaffnete Sanitäter traten ihnen entgegen.
    Hans schob seinen Fellmantel etwas zurück, und die Sanitäter erkannten die Schulterklappen eines Oberstleutnants auf Laskes zerfetzter Uniform und gaben den Weg frei.
    Sie drangen in einen privilegierteren Kreis der Hölle vor. Die Luft roch nach Müdigkeit, Blut und Eiter. Durch dämmriges Licht trugen sie den Hauptmann in ein mit Zeltbahnen abgetrenntes Abteil. Dort stand hinter einem blutverschmierten OP-Tisch tatsächlich ein Chirurg, klein, hager, mit einem Gesicht, das so alt war wie die meisten Gesichter im Kessel. Er trug einen verdreckten Lammfellmantel, eine russische Pelzmütze und eine Gummischürze. Seine bloßen Finger hielt er über die dampfende Wunde eines Patienten, der auf dem Tisch festgeschnallt war. Auf einer Metallkiste und am Boden hockten zu Tode erschöpft die beiden Sanitäter von vorhin. Das Gesicht des einen war zu einer mitleidvollen, das des anderen zu einer bösartigen Grimasse erstarrt. Der Arzt bewegte leicht die Hände und wandte sich an Hans.
    »Haben Sie warme Hände? Geben Sie her! Geht schneller.«
    Sein starker Akzent erinnerte sie an eine längst versunkene Welt, an Sonne, Strand, Meer, an Italien. Er ergriff Hans’ Hände und wärmte daran seine steifgefrorenen Finger.
    »Schöne, warme Hände.« Mit den etwas beweglicher gewordenen Fingern zeigte er auf Musk. »Legt euren Freund da hinten irgendwo hin.«
    Er griff nach einer blutigen Knochensäge und schnitt seinem Patienten den rechten Oberschenkel ab.
    Rollo versuchte, den Puls des Hauptmanns zu ertasten, ohne Erfolg. »Sie müssen ihn als Nächsten drannehmen!«
    Der Arzt bewegte die Schultern unter seinem Mantel. »Von mir aus. Er wird sowieso sterben.«
    Rollo packte ihn am Mantel. »Das wird er nicht.«
    »Natürlich nicht.« Der Arzt arbeitete gelassen weiter. Es war immer das Gleiche. Jeder hatte irgendeinen allerletzten besten Freund, der gemeinsam mit dem letzten Funken Hoffnung nicht sterben durfte. Sein Blick streifte das eingefallene graue Gesicht von Musk, aus dem Nase und Kinn scharf hervorstachen. Ja, dachte er resigniert, er wird durchkommen. Wenn er die Operation ohne Narkose überlebt, wenn er die infizierten Verbände überlebt, die wir den Toten abnehmen und nicht mehr waschen können, weil wir seit Tagen kein Holz haben, wenn er bei zwanzig Grad minus auf dem Boden liegend im Zelt überlebt, wenn er mit einem Teller Wasser am Tag auskommt, wird er überleben.
    »Wenn ihr ihm wirklich einen Gefallen tun wollt, legt ihn raus in den Schnee zu den anderen«, sagte er. »In der Kälte stirbt man schnell. Meistens dauert es nicht mehr als zwanzig Minuten.«
    Die Männer schwiegen und starrten zu Boden. Sie standen bis über die Knöchel in einem ha lb gefrorenen Sumpf aus Knochensplittern, Fleischfetzen, Blut.
    »Wieso machen Sie dann überhaupt noch weiter?«, fragte Hans schließlich.
    »Aus Gewohnheit.« Die dunklen Augen des Arztes flackerten kurz. »Und weil ich weiß, dass ich verrückt werde, wenn ich einfach nur hier rumsitze. Halten Sie mal.«
    Hans hielt das Bein, der Arzt trennte es endgültig vom Körper und schleuderte es in den Kübel. Der Amputierte wachte auf, schrie. Einer der Sanitäter kam langsam auf die Füße, presste ihm einen Lappen, den er aus einer Schale nahm, aufs Gesicht. Der Verwundete bäumte sich auf, fiel wieder in Bewusstlosigkeit.
    Der Arzt hatte mit keiner Regung gezeigt, dass er die Schreie wahrgenommen hatte. Er klemmte die Adern ab, vernähte die Wunde. Seine Hände zitterten, die Nadel verfehlte immer wieder die Hautlappen. Er wies mit einem Kopfnicken auf den Kübel. »Wissen Sie, wie wir das nennen? Hundefutter.«
    Hans musterte die Schale mit der hellen Flüssigkeit, aus der der Sanitäter den Lappen genommen hatte. »Was ist das?«
    »Benzin. Haben wir bald auch nicht mehr.«
    Auf

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