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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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eingesunkenen Kinderaugen, »bitte, eine Amputation. Ich liege hi er seit zwei Tagen. Bitte, amputieren Sie mich endlich. Hier, mehr hab ich nicht, bitte …« Er hielt ihm seine rechte Hand hin. Am zum Knochen geschrumpften Zeigefinger baumelte lose ein Ehering.
    Hans floh mit letzter Kraft aus dem Zelt und brach draußen zwischen den Erfrierenden zusammen, während sich der Arzt mit Verwundeten an den Füßen hint er ihm herschleppte und schließlich jede Hemmschwelle verlor und wild um sich trat.
    Hans spürte, dass er im Gesicht blutete, und verteilte das Blut mit den Händen. Er betrachtete einen Blutstropfen, der sich von seinem Zeigefinger löste, und fing ihn mit der Zungenspitze auf, ehe er gefrieren konnte. Er glaubte, das Geschrei der Krähen zu verstehen. Sie beschrieben das Jenseits.
    Er hob den Kopf und sah, dass es die Stimme jenes Sanitäters war, der ihn vorhin aufgefordert hatte, alle Schwerverwundeten zu erschießen. Er stand inmitten der Erfrierenden und sang einen Choral. Er sang sehr schlecht.
    Er spürte den Blick von Hans und drehte sich zu ihm um. »Können Sie besser singen?«
    Hans schüttelte den Kopf, dann drückte er dem Sanitäter eine halbe Zigarette in die Hand.
    Fritz ließ den Motor aufheulen. Hans hörte, wie sie nach ihm riefen. Er ging zum Lkw, kletterte ins Führerhaus, sie fuhren ab.
    Als sie durch die tiefen Reifenspuren zurück auf die Heerstraße krochen, tauchte der Arzt hinter ihnen auf. Er hatte seine Mütze verloren, sein Mantel stand offen. Ohne dass sie es bemerkten, wälzte er sich keuchend auf die leere Ladefläche.

 
     
     
     
     
     
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    D er Hauptmann lag wieder zwischen Rollo und Gross. Nachdem er eine Morphiumspritze bekommen hatte, ging es ihm mit Abstand am besten von allen. Sein Gesicht wirkte entspannt, friedlich.
    Gross hatte in seinem Mantel verschiedene Karten gefunden. Der gesamte Kessel, Frontlinie über Kasatschihügel; der halbierte Kessel, Frontlinie Goncara; der gev iertelte Kessel, Frontlinie Gumrak; zwei Stadtpläne, Stalingrad-Nord, Stalingrad-Süd. Dazwischen der Mamaihügel, von dem sie sich tunlichst fernhalten sollten, da er als beherrschende Feuerstellung wahrscheinlich längst wieder im Besitz der Russen war.
    Der Platz der weißen Häuser, wo sich angeblich das Depot befinden sollte, befand sich im Nordteil der Stadt, nicht allzu weit von dem Fabrikgelände entfernt, wo sie vor knapp drei Monaten angetreten waren, um das letzte Zehntel von Stalingrad zu erobern.
    »Wir müssen uns beeilen, sonst sind die Russen vor uns dort.« Rollo starrte in den von Schneeflocken durchwehten Nebel. »Für die Stadt sind so viele Deutsche verreckt, die gehört jetzt uns, die werden die Russen nie mehr kri egen. Wenn wir genug Fressen haben, halten wir aus bis Ostern, dann kommt die nächste deutsche Offensive. Das war jedes Jahr so. Wenn der Schnee weg ist, marschieren wir.«
    Mit einem Schlag wurde es wieder Nacht. Die Dunkelheit kam ihm vor wie eine schwarze Wand, gegen die seine Stirn immer wieder stieß, bis er Kopfweh davon bekam. Erschöpft schloss er die Augen, aber das Klopfen in seinem Kopf ging weiter.
    Auch die anderen hatten es gehört . Fritz schaltete die Scheinwerfer ein. Einer funktionierte noch. »Sind da noch Verwundete hinten drauf?«
    »Scheiße«, sagte Rollo, »die müssen weg. Einer reicht uns.«
    Er blinzelte zur Seite – und fuhr erschrocken zurück. Die kälteverzerrte Fratze des Arztes war im Seitenfenster erschienen. Rollo riss die Pistole hoch.
    »Nicht durchs Fenster!«, brüllte Fritz. Er trat auf die Bremse, Hans stieß die Tür auf. Der Arzt fiel in den Schnee, rappelte sich auf, hob die Hände, bat um Gnade, versprach, den Hauptmann zu operieren. Faselte irgendwas auf Italienisch von einer Klinik in Bologna.
    »Sonst noch jemand hinten?«, unterbrach ihn Hans.
    Gross hatte nachgeschaut, schüttelte den Kopf. Hans nickte dem Arzt zu. »Steig ein!«
    Rollo starrte den ehemaligen Leutnant an. »Wieso denn das?«
    »Es ist dein Hauptmann. Wir haben keine Zeit, nach einem anderen Doktor zu suchen. Du kannst entscheiden.«
    Rollo gab die Tür frei. Der Arzt verbeugte sich mehrmals wie ein Bettler, der ein unerwartetes Almosen erhalten hat. Rollo stieß ihn unsanft ins Führerhaus neben den bewusstlosen Hauptmann, dann fuhren sie weiter.
    Die Straße grub sich tiefer in das weiße Leichentuch, das sich rings um sie ausbreitete. Bracci begann zu schluchzen. Es hörte sich an wie das Fiepen eines jungen

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