Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
Vom Netzwerk:
oder nicht. Es ist immer gleich beschissen.«
    »Das ist nicht wahr, und Sie wissen es auch.«
    Gross nickte, als würde er dem Leutnant zustimmen. »Ich verrate Ihnen noch etwas. Sinnvoll sind Kriege immer nur für die, die sie nicht an der Front führen müssen.«
    »Sie wurden ungerecht behandelt«, sagte Hans versöhnlich. »Auch ich habe hier einiges erlebt, das können Sie mir glauben. Aber ich habe dadurch auch sehr viel gelernt und begriffen.«
    »Wenn Sie so viele Leichen gebraucht haben, um das zu begreifen, was Sie jetzt wissen«, Gross machte eine vage Handbewegung in Richtung Schlachtfeld, »wie viele werden Sie dann noch brauchen, um das zu begreifen, was ich weiß?«
    Hans wandte sich wütend ab. Aber nun zu gehen, wäre ein klares Eingeständnis seiner Niederlage gewesen.
    »Sie entwickeln sich zu einem guten Vorgesetzten«, sagte Gross. »Aber, wissen Sie, letztendlich ist das herzlich egal, weil verrecken werden wir so oder so. Ein guter Vorgesetzter verlängert möglicherweise unsere Leiden. Bedenken Sie das, bevor Sie sich weiter abmühen.« Sorgfältig zertrat er den winzigen Rest seiner Zigarette. »Mir ist es längst völlig egal, ob Kriege gerecht sind oder nicht, vermeidbar oder unvermeidbar. Ich habe alle Hände voll zu tun, gelegentlich noch Interesse für mich selbst aufzubringen. Wozu? Aus Neugierde. Ich will sehen, wie schlimm es noch werden kann.« Er begann die Worte gleichsam auszuspucken. »Zu welch großartigem, unvorstellbarem Inferno sich dieser kleinbürgerliche, spießige Größenwahnsinn noch auswachsen kann. Sie als Aristokrat brauchen sich nicht angesprochen zu fühlen.« Er lachte auf. »Es ist Neugierde, weiter nichts.«
    »Haben Sie uns deswegen beim letzten Angriff aus dem Feuer geführt?«, fragte der Leutnant leise.
    Gross schüttelte den Kopf. »Eher aus Gewohnheit. Wenn Sie lange eine Uhr getragen haben, schauen Sie gelegentlich immer noch auf ihr Handgelenk, auch wenn Ihnen die Uhr längst abhanden gekommen ist. Die Uhr ist eine Zeitvernichtungsmaschine, wissen Sie das? Und die Zeit ist eine Selbstvernichtungsmaschine«, murmelte er, um sich dann durch eine Grimasse wieder in die Wirklichkeit zurückzurufen. »Eine typisch menschliche Erfindung. Wir haben sie erfunden. Wir, die Krone der Schöpfung.« Er lachte kurz auf. »Ich wusste, dass Ihnen das gefällt. Sie sollten Ihr dankbares Gesicht sehen. Ich muss Sie enttäuschen. Wir sind nicht die Krone, wir sind der Abschaum. Ein zufälliger Fehltritt der Evolution, den der Führer jetzt allerdings nachhaltig korrigiert. Eine wahrhaftig große Aufgabe!«
    Hans wollte ihn an den Schultern packen, ihn endlich zum Schweigen bringen, aber eine beängstigende Freude an diesen durch und durch verwerflichen Gedanken hielt ihn davon ab. Er kam sich vor wie ein kleiner Junge beim Le sen eines verbotenen Buches. Gebannt lauschte er weiter der gleichmäßig raunenden Stimme.
    »Insofern haben die Pfaffen und die Nazis recht. Der Führer ist tatsächlich ein Werkzeug Gottes , wenn man so etwas wie Gott unterstellen will. Wobei das nun wirklich gleichgültig ist.« Erstaunt richtete Gross den Kopf, der ihm beim Sprechen immer tiefer auf die Brust gesunken war, wieder auf. »Jetzt wäre ich tatsächlich fast eingeschlafen«, stellte er fröhlich fest. »Ich bin es nicht mehr gewohnt, meine Monologe laut zu halten, glaub ich. Ich bitte um Vergebung«, flüsterte er im Tonfall eines demütigen Bittstellers. »Können Sie mir verzeihen?«
    »Ich denke nicht, dass Sie mich verspotten sollten«, erwiderte der Leutnant steif.
    »Oh!« Gross hob beide Hände wie zu einem orientalischen Gruß. »Sie können mich morgen wegen defätistischer Äußerungen an die Wand stellen lassen, und ich werde die Kugel zur Kenntnis nehmen. Zumindest das Mündungsfeuer. Ich werde es begrüßen wie einen alten Freund. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie oft ich mir das bereits ausgemalt habe, das Ende. Ein gutes Mittel gegen die Angst, sich mit offenen Augen die Details der letzten Momente auszumalen. Mit offenen Augen. Das ist wichtig. Trotzdem fürchte ich manchmal, dass die Wirklichkeit meine schlimmsten Vorstellungen übertreffen wird. Aber ich arbeite dagegen an, scheue nicht einmal vor romantischen Motiven zurück: Das Mündungsfeuer orange wie die Sonne auf den letzten Herbstblättern. Die blassblauen Rauchfahnen aus den Gewehrläufen des Exekutionskommandos an einem klaren Wintermorgen. Merkwürdig – das Einzige, was mich gelegentlich noch

Weitere Kostenlose Bücher