Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
er zu lesen: »Oh, hört mal her: Der Gefreite Fritz, Fragezeichen, äußert sich negativ über die Offensive, Stimmung nicht nationalsozialistisch, sondern defai… wie heißt der Scheiß?« Er klappte das Heft zu, und seine Stimme war auf einmal ganz leise: »He, wir haben einen richtigen Geheimsender hier!«
Mit einem kräftigen Ruck riss er den Neuen dicht vor sein Gesicht und schlug ihm das Heft links und rechts um die Ohren.
»Aufhören!« Der Leutnant ging entschlossen dazwische n. »Reiser, geben Sie mir das Heft!« Er nahm Fritz das Heft ab, überflog eine Seite und warf es kommentarlos ins Feuer.
Der Neue starrte seinen Vorgesetzten entsetzt an. Er hatte mit Unterstützung, wenn nicht gar mit Lob gerechnet.
»Herr Leutnant«, stieß er mühsam hervor. »Ich war Oberscharführer in der HJ! Ich habe mich freiwillig an die Ostfront gemeldet! Ich …«
»So was gibt’s wirklich!«, sagte Fritz.
Der Leutnant schloss die Ofenklappe. »Wenn auch nur ein einziger meiner Leute Ihretwegen in Schwierigkeiten kommt«, sagte er langsam, »werde ich Sie dafür zur Verantwortung ziehen.«
Betretene Stille. Die Soldaten waren beinahe froh, als ihre Aufmerksamkeit von den neu einsetzenden Schreien des Verwundeten in Anspruch genommen wurde.
Wölk linste vorsichtig in die Nacht. »Scheiße – das ist einer von uns.«
Die Männer sahen sich betreten an. »Einer von uns« bedeutete, dass man versuchen musste, ihn zu bergen. Und das wiederum bedeutete, dass man draufgehen konnte. Für einen Augenblick waren sie völlig still, und man hörte die Schreie noch deutlicher.
»Das ist doch ein Iwan!«, sagte Pflüger schnell.
»Quatsch, hör doch!«
Die weinende, um Hilfe rufende und klagende Stimme wurde so laut, dass kein Zweifel mehr bestehen konnte: ein Deutscher.
»Ich glaub, das ist Willi«, flüsterte der Gemeine Müller.
Der Verwundete schrie unartikuliert und mit gleichbleibender Lautstärke. Er musste schlimme Schmerzen haben. Jeder, auch der Fantasieloseste, konnte sich ausmalen, was es bedeutete, draußen in der Dunkelheit zu liegen, schwer verletzt, hilflos, allein.
»War wohl ohnmächtig«, murmelte Rollo. »Da haben die Sanis ihn übersehen.«
Drei von den jüngeren Soldaten hielten sich entsetzt die Ohren zu. Der pickelgesichtige Müller meldete sich freiwillig, um den Verwundeten zu bergen. Der Leutnant sah in seine blassblauen Augen. Keine Frage – der Mann würde es tun. Nicht, weil er mutig war. Der Junge war zu beschränkt, um die Gefahr zu erkennen und Angst zu haben.
Der Leutnant widerstand der Versuchung, ihn nach draußen zu schicken. Er konnte keinen Mann entbehren, nicht mal einen Nazispitzel.
»Sie bleiben hier!«, befahl er barsch. »Vielleicht ist das eine Falle. Gross, was meinen Sie?«
Gross saß immer noch am Ofen und wärmte sich die Hände.
»Hört sich nach Bauchschuss an.«
AGM sprang verzweifelt auf. »Ich halte das nicht mehr aus!«
Auch der dritte Müller war mit den Nerven am Ende. »Ihr könnt ihn doch nicht einfach da draußen verrecken lassen!«
Die Alten betrachteten die Neuen mit einer Mischung aus Bewunderung und Mitleid. Die waren tatsächlich noch bereit, für irgendein armes Schwein, das sie kaum dem Namen nach kannten und dem wahrscheinlich sowieso nicht mehr zu helfen war, ihr Leben zu opfern.
»Sei still!«, sagte Piontek zu AGM. »Gross hört alles.«
Stumm starrten die Männer Gross an, von dessen Entscheidung ihr Schicksal abhing. Fritz und Bubi, der Gemeingefährliche, sahen sich an. Für einen Kübel Suppe hatten sie noch vor einer Woche ihren Hals riskiert.
Bubi wollte aufstehen, doch Fritz schüttelte den Kopf, und Bubi begriff, dass Fritz recht hatte. Es lohnte sich nicht. Wenn man überleben wollte, lohnte es sich nicht.
Gross sah sie der Reihe nach an . Plötzlich lächelte er schief.
»Gute Schauspieler, die Iwans. Verdammt gute.«
»Sind Sie sicher?«, fragte der Leutnant.
Ihre Blicke trafen sich kurz. »Ja.«
Der Leutnant drehte sich um. »Rohleder, Pflüger – Granatwerfer im Nebenraum fertig machen.«
Rollo und Pflüger brachten eine n leichten Granatwerfer in Stellung. GMs rotes Gesicht war noch röter geworden. »Hört sich aber wirklich nach Willi …«
»Halt jetzt dein Maul!«, fuhr Wölk ihn an.
Gross horchte nach draußen. »Entfernung dreißig Meter, zwanzig Grad links …«
»Feuer!«, befahl der Leutnant entschlossen.
Rollo betätigte den Auslöser. Nach dem Einschlag war das Geschrei nicht mehr zu hören.
»Haben
Weitere Kostenlose Bücher