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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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wir dir’s Maul gestopft«, stellte Pflüger zufrieden fest.
    Alle, besonders diejenigen, die s ich freiwillig für die Rettungsaktion gemeldet hatten, waren erleichtert.
    Der Leutnant setzte sich an den Ofen neben Gross. Er reichte ihm eine Zigarette und gab ihm Feuer. Gross nahm einen tiefen Zug. Dann sagte er mit seiner gleichgültigen, etwas zu hohen Stimme:
    »Der Iwan lag längst auf der Lauer. Keiner, der raus wär, wäre zurückgekommen. Hätte noch Stunden gehen können. Das junge Gemüse wär durchgedreht.«
    Hans nickte. »Es war einer von uns.«
    Einer von Gross’ Mundwinkeln bog sich nach unten. »Ja.«
    »Das war mir klar.«
    Sie sahen sich an, und Gross registrierte, dass der Leutnant nicht mehr als Erster wegsah.
    »Sie machen sich, Herr Leutnant«, sagte er, und Hans erschrak, als er fühlte, wie stolz er über dieses spöttische Lob war.

 
     
     
     
     
     
    34
     
     
    D ie Nacht glitt in ihre schwärzeste Phase. Gross hatte sich freiwillig erboten, zwei Wachen zu übernehmen, weil er sowieso nicht schlafen konnte. An den anderen Eingängen hielten der Jung-Nazi und der Betbruder Wache. Pflüger hielt sie mit seinem bewährten Strick wach. Jede Stunde wurde gewechselt.
    Gross starrte bewegungslos in d ie Dunkelheit. Seine dürre, knochige Brust hob und senkte sich gleichmäßig. Die Zeit verstrich. Er lauschte in die Finsternis auf die Geräusche, die um diese Zeit im Dschungel aus Schutt und Stahl auf ein Minimum reduziert waren. Gelegentlich das nervöse Rattern eines Maschinengewehrs, aufflackerndes Gewehrfeuer, das Zwitschern einer verirrten Kugel. In der Ferne das schlagende Rumoren eines Artillerieüberfalls.
    Die Finsternis kroch in ihn hinein und füllte ihn aus. Als sie im letzten Winkel seines Körpers und seiner Gedanken saß, entspannte sich sein Gesicht. Das war besser als Schlaf. Jetzt konnte er sich erholen.
     
    Hans starrte mit offenen Augen auf die lehmspritzenden Ketten eines heranrollenden Panzers. Er wollte schreien, aber der Schrei saß in seiner Kehle fest.
    Während er von abgrundtiefem Entsetzen an den Boden genagelt war, nicht einmal fähig, die Augen zu schließen, bäumte sich das stählerne Ungetüm hoch über ihm auf, die mahlende Kette senkte sich auf ihn herab, Dreck wurde ihm in den aufgerissenen Mund geschleudert, er spürte den heißen Lufthauch des röhrenden Motors auf seiner Wange, und so etwas wie Dankbarkeit, dass es endlich zu Ende war, erfüllte ihn.
    Die Kette wippte träge wieder zurück und verhielt zitternd über ihm. Träumend erkannte er den Traum und träumte ihn ohne Angst, sondern mit wachsendem Interesse weiter. Sachlich musterte er seinen Körper, der vom Brustbein bis zum Nabel weit aufgerissen war, weiß die geborstenen Rippenbögen, an den Rändern rotes Fleisch, sein Blut bewegungslos. Nur das schwarz verbrannte Herz pulsierte.
    Seine Hände holten aus dem Verbandspäckchen ein kleines Heftpflaster, hellbraun, mit gelber Wundstelle, hielten es prüfend über die viel zu große Wunde, überklebten das Herz.
    Er umarmte seine Verlobte. Einige Herbstblätter fielen über ihre Leidenschaft. Er küsste sie mit einer Lust, die Träume häufig von der Wirklichkeit trennt. Ihr Körper öffnete sich. Blut, Eingeweide, Knochen – ihr Leib saugte ihn in si ch auf, er versank in ihrem aufgebrochenen Fleisch. Ihr Brustkorb schloss sich über ihm, er fühlte sich geborgen, ungeboren.
    Ruckartig schrak er hoch. Er hatte doch nicht etwa wieder gesprochen? Diese entsetzlich en, unverantwortlichen Traumbilder …
    Doch die Männer, die mit rot unterlaufenen Augen Wache schoben, schienen nichts bemerkt zu haben. Nicht einmal Gross, der wie ein zu klein geratenes Denkmal bewegungslos dasaß und in die Nacht hinausstarrte.
    Auf einmal verspürte Hans einen heftigen Stich im Unterbauch. Tastend schleppte er sich auf allen vieren in den Nebenraum, zog die Hosen nach unten und hockte sich neben die kalte Wand. Vom Gestank seiner Vorgänger wurde ihm übel.
    Der Posten, ein dunkler Fleck neben dem langen Schatten des MGs, drehte sich nicht um. Wahrscheinlich war er zu erschöpft, um sich an den diversen Geräuschen seines Leutnants zu erfreuen. Trotzdem schämte sich Hans. Er hatte gelernt zu töten. Er hatte gelernt, Entbehrungen zu ertragen. Er hatte sogar gelernt, zusammen mit seinen Soldaten auf einem Donnerbalken zu hocken. Aber er hatte noch nicht gelernt, in einen stinkenden Blecheimer seine Notdurft zu verrichten und ihn anschließend mit Regenwasser

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