Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
zu säubern.
Seine Magenkrämpfe wurden schlimmer. Wie hatte er nur so etwas Furchtbares träumen können! Seine Verlobte Clara – was hatte sie mit diesem Krieg zu tun? Sie war schön und rein und u nendlich weit weg. Er durfte sie nicht beschmutzen, nicht einmal in Gedanken, lieber würde er sterben.
Ich kann doch nichts dafür, flüsterte es in ihm, aber gleichzeitig wusste er, das war nicht entscheidend. Diese Bilder waren ein Teil von ihm, und er war ein Teil dieser Bilder. Schlimmer als die Kälte beschlich ihn ein graues Gefühl tie fer Hoffnungslosigkeit. Jede Bewegung, jeder Gedanke erschien ihm völlig sinnlos. Er kannte dieses Gefühl nur allzu gut. Es war seine vielgehasste Melancholie. Wie sehr hatte er gehofft, ihr durch den Krieg, das Leben als Soldat, entkommen zu sein. Ausgerechnet jetzt, da er Vorbild zu sein hatte unter schwersten Bedingungen, kehrte sie zurück.
Er spürte Tränen in sich aufsteigen. Gnädigerweise wurde seine Magenkolik dadurch besser. Wüten d wischte er sich die Augen trocken. Er würde diese Aufgabe hier meistern oder draufgehen.
Auf allen vieren kroch er zurück. Hoffentlich hatte niemand etwas von seinem Schwächeanfall bemerkt. Oder doch?
»Verlassen Sie sich nie auf Träume«, sagte Gross mit dem Rücken zu ihm. »Sie lügen genauso wie das Leben.«
Hans hielt mitten in der Bewegung inne. Gross hatte ihn von sich aus angesprochen. Hans musste ihn nicht ansehen. Er fühlte auch so, dass sich ihre Gedanken spiegelten. Das einzig Vernünftige wäre gewesen, sich von diesem Mann fernzuhalten, sein bloßer Anblick konnte seine Fantasien in krankhafte Abgründe stoßen, und trotzdem kroch er nicht an seinen Platz am Ofen zurück, sondern zu Gross, dessen schmaler Körper vor Kälte zitterte.
»Sie frieren sich zu Tode. Soll ich Sie ablösen?«
»Die Kälte kommt und geht wie die Angst«, erwiderte Gross. »Dabei ist beides eigentlich immer da. Komisch, nicht?« Er sah hinüber zu den Ruinen auf der anderen Seite des Platzes. »Man muss einen Schmerz durch den anderen ersetzen. Das ist die ganze Kunst! Schmerzt Sie der Bauch, schlagen Sie sich auf den Kopf. Brennen die Füße, halten Sie die Hände ins Feuer. Und so weiter. Ein komisches Rezept, wie?« Er hustete. »Täuschen Sie sich nicht, ich zittere nur noch, ich friere nicht mehr. Sozusagen eine Hommage meines Körpers an frühere Befindlichkeiten. Wenn Sie lange genug zittern, hören Sie auf zu frieren. Alles ist wie taub. Jeder Schmerz mündet irgendwann in Taubheit oder Tod. Ein Trost, der immer zu spät kommt. Die Natur hinkt dem Schmerz hinterher wie der Verstand dem Grauen.«
Er verstummte abwartend, wie um dem Leutnant Gelegenheit zu geben, ihn zu verlassen. Doch der Leutnant ging nicht. Also fuhr Gross fort:
»Wirklich schlimm wird es immer erst hinterher. Oft brauchen Sie Jahre, um zu bemerken, wie schlimm etwas war.« Er wurde plötzlich von einer seltsamen Heiterkeit ergriffen. »Treten wir also die Flucht nach vorn an! Betäuben wir den Schmerz mit noch mehr Schmerz!« Er lauschte auf das gegen drei Uhr aufflackernde Geschützfeuer. »Wenn Sie schon hier sind, geben Sie mir was zu rauchen.« Provozierend starrte er seinen Leutnant an. »Haben Sie was?«
Hans überhörte den respekt losen Ton und gab ihm eine Zigarette. Sie rauchten. Rollo wälzte sich im Schlaf grunzend auf Fritz, der ihn schimpfend zurückstieß.
»Beneidenswert, wem der Schnaps noch etwas nützt«, murmelte Gross.
»Man darf nicht aufgeben«, sagte Hans. »Wenn wir diese Stadt genommen haben, wird man Frieden schließen.«
Gross lachte. »Glauben Sie das wirklich?«
»Wir haben immerhin das Wort eines Generals. Er würde keinen Urlaub versprechen, wenn man nicht vorhätte, den Krieg zu beenden. So wie es um unsere Truppen bestellt ist, geht es doch auch gar nicht anders«, fügte er leise hinzu.
Gross schüttelte den Kopf. »Wen n unsere Führung intelligent genug wäre, hätte sie ihn längst gemacht, diesen schönen Frieden. Seit einem Jahr geht es nur noch bergab. Dieser Krieg wurde schon im letzten Winter endgültig verloren. Alles, was hier geschieht, ist – auch militärisch – längst völlig sinnlos.«
»Nein!«, rief Hans so laut, das s Pflüger strafend ein Auge öffnete.
»Doch, mein Lieber.« Das letzte Wort klang so seltsam, dass Hans unwillkürlich lächeln musste. »Aber trösten Sie sich, ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Wenn man krepiert, kann es einem völlig egal sein, ob es für eine sinnlose Sache ist
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