Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
letzten Augenblick, stürzte ihm nach und zerrte ihn zurück. »Hier geblieben, kleine Kröte!«
Der Leutnant kam aus dem Nebenraum zurück, befreite den Jungen aus Rollos Händen. Zum ersten Mal betrachtete er ihn genauer.
»Wir kennen uns doch!«
Fritz ging in die Knie, um dem Jungen, der trotzig zu Boden starrte, besser ins Gesicht sehen zu können. Dann entdeckte er seine auffallend großen Füße. »Mensch, klar, das ist doch der Kleine mit den Schwestern!«
Rollo hielt dem Jungen vorwurfsvoll seinen frisch verbundenen Arm unter die Nase. »Sag mal, bi st du verrückt, mir eine zu verpassen?«
Der Leutnant führte Sascha zum Ofen und bot ihm etwas von der kalten Tomatensuppe an. Der Junge schüttelte den Kopf. »Wie geht’s deiner Mutter? Wie bist du hierher gekommen?«
Sascha sah den Leutnant nur hasserfüllt an. Hans nickte müde.
»Ja, ja, ich weiß, wir haben dei ne Freunde getötet, wir sind Faschistenschweine und haben Russland überfallen …«
»Wieso ihr nicht nach Hause?«, fragte der Junge heftig.
»Du bist jetzt auch Soldat. Du weiß doch, was ein Befehl ist?«
»Ist schlechter Befehl«, sagte der Junge mit einer Gewissheit, die Hans schon längst nicht mehr besaß.
»Man muss jeden Befehl befolg en, sonst wird man erschossen.«
»Wenn du bleibst, du und alle Faschisten auch erschossen. Das ist unsere Stadt.«
Dagegen war wenig zu sagen. »Wir haben euch so viel Unrecht angetan«, sagte Hans schließlich l eise. »Wir können nicht mehr zurück. Wir müssen weiterkämpfen, damit es euch nie gelingt, euch an uns zu rächen. Verstehst du das?«
»Wir werden uns rächen«, sagte der kleine Russe.
Hans nahm den Kochgeschirrdeckel vom Ofen, der als Teller diente und in dem sich Suppe befand. »Iss jetzt.« Er wollte ihm einen vollen Löffel in den Mund schieben, aber Sascha presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. »Du sollst essen, verdammt noch mal!« Wütend warf Hans den Löffel in die Suppe zurück.
»Das ist unser Land!« Sascha reckte seinen dünnen Arm mit geballter Faust in die Höhe und begann auf Russisch patriotische Parolen zu schreien. Er sah dabei ziemlich komisch aus, und seine Stimme hatte auch nicht mehr die Kraft, um richtig zu schreien.
Die Männer schüttelten die Köpfe. Die meisten sahen dabei verlegen zu Boden, auch der zweite Russe, der den Krieg schon zu gut kennengelernt hatte, um sich noch etwas anderes zu wünschen, als zu überleben.
»Halt doch die Schnauze, Junge«, sagte Rollo beinahe liebevoll.
Sascha brach ab und starrte die Männer mit zuckenden Lippen an. Er merkte, wie lächerlich sie ihn fanden, und begann vor Zorn und Scham zu weinen.
»Ich kämpfe für mein Land!«, schrie er schluchzend. »Aber ihr Faschisten seid alle Mörder!«
Hans verlor endgültig die Beherrschung und versetzte ihm eine heftige Ohrfeige. Erschrocken betrachtete er seine Hand, sein eigenes Gesicht begann zu brennen, als hätte er sich selbst geschlagen. Undeutlich hörte er HGMs helle Stimme. »Sehen Sie’s jetzt endlich ein, Herr Leutnant?«
»Halten Sie den Mund!«, brüllte ihn Hans an. Er drückte Sascha neben sich auf die Zeltbahn. »Und du geh runter, sonst findet der Rest des vaterländischen Krieges ohne dich statt!«
Sascha setzte sich und starrte auf den Kochgeschirrdeckel mit der Tomatensuppe, die nach wie vor unberührt auf dem Ofen stand.
Hans nahm den Deckel und hielt ihn dem Jungen hin. »Komm schon, iss jetzt deine Suppe!«
Saschas Hunger war zu groß. Gierig begann er zu essen. »Glaub nicht, wir kein Essen«, sprach er zwischendurch trotzig. »Wir Russen gutes Essen!«
»Ja ja.« Hans lächelte verstohle n. »Was ist mit deiner Mutter?«
Sascha hob langsam den Kopf und blickte ihn an. Stockend und auf Russisch begann er zu berichten. Gross übersetzte. Haller war offenbar mit Slesina und seine m Zug Feldgendarmen wiedergekommen. Betrunken hatten sie von Sascha lautstark die versprochenen Schwestern gefordert. Aber Sascha hatte keine Schwestern. Er hatte sie erfunden, damit die Deutschen das Haus nicht niederbrannten.
»Das war doch klar«, sagte Fritz leise.
Slesina und seinen Leuten war es nicht klar gewesen. Aus Wut über ihren Misserfolg hatten sie das Haus angezündet, und als Saschas Mutter versucht hatte, das brennende Haus zu verlassen, hatten sie ihr die Krücken weggeschossen. Oberleutnant Haller hatte dem besten Schützen eine Siegesprämie in Form einer Flasche Kognak versprochen. Slesina hatte sie
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