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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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dass es dir nicht ergeht wie deinem Bruder … Sein Bruder war einer der Wenigen gewesen, die im Polenfeldzug gefallen waren, gleich am zweiten Tag. Erst hat er den entscheidenden Elfmeter bei der Schulmeisterschaft verschossen, dachte Herbert, und dann ist er auch noch gefallen. Manche hatten eben nur Pech.
    »Fußball ist doch Scheiße«, sagte Rollo. »Ich hab ’n Paddelboot, Zweisitzer. Meine Alte sitzt vorn und ich hinten. Sie paddelt, und ich guck mir die Gegend an.« Er registrierte, dass Bubi ihn anstarrte. Ein ungeöffneter Brief lag in seinem Schoß. Der Kleine sollte sich bloß nicht so anstellen – ’n Bauchschuss war schlimmer!
    Rollo verzog sich in den Nebenraum, um in Ruhe seinen Brief lesen zu können.
     
    Dort legte der Leutnant letzte Hand an den Notverband des verletzten Essenholers. Fritz kroch neben ihn und überreichte ihm ein zierliches, ziemlich dickes Kuvert.
    Hans lehnte sich zurück und betrachtete die ihm wohlbekannte geschwungene Schrift. Dann sah er hoch zu Gross, der nach wie vor an ihrem selbst gebastelten Schießstand hockte, das Gewehr im Anschlag. »Keine Post, Gross?«
    »Nee.« Gross bezog eine neue Stellung.
    Fritz rutschte ungeduldig auf seinem breiten Hintern hin und her, bis Hans sich endlich dazu entschließen konnte, seinen Brief zu öffnen.
    »Steht was von deinem Onkel drin«, fragte er.
    Hans schüttelte den Kopf. »Meine Mutter hatte wohl bisher nur Gelegenheit, einmal kurz mit ihm zu telefonieren. Er ist sehr beschäftigt.« Hans lächelte dünn. »O der ihre Kunst, andere zu bezirzen, hat nachgelassen.«
    »Aber dein Onkel wird dich doc h hier nicht verrecken lassen!«
    »Mach dir keine Sorgen. Wir kommen hier raus.«
    Hans erschrak, als er erkannte, wie sehr sich Fritz an das fadenscheinige Versprechen klammerte, wie seine Augen hoffnungsvoll aufleuchteten. Aber was sollte er ihm sonst erzählen? Dass er überhaupt nicht mehr wusste, was er noch zu Hause verloren hatte?
    Er überflog den Brief seiner Verlobten, nicht fähig, ihn Wort für Wort zu lesen. Diese Begriffe wie Schönheit, Glauben, Treue widerten ihn an, und er ertappte sich bei dem Wunsch, der Krieg möge ewig währen, nur damit er ihr nie mehr würde gegenübertreten müssen. Die Kraft, all die Lügen auszusprechen, die sie und die anderen in der Heimat von ihm erwarteten, hatte er nicht mehr.
    Er schaute auf seine Hände und bemerkte, dass er seit geraumer Zeit schrieb. Hieroglyphen, die er auf den freien Rand ihres Briefes kritzelte. Man erwacht und weiß nicht mehr, ob man wach ist oder träumt. Es ist einem auch gleichgültig. Die Wirklichkeit und die Albträume sind eins. Blut, Eiter und Knochen, ein zerfetztes Organ, eine fantasievoll arrangierte Leichenschau nach einem Volltreffer – das sind die Blumen auf unseren Metallwiesen. Das Orchester des Lebens reduziert sich auf einen einzigen stumpfen Ton. Man kann ihn nicht hören, doch er nimmt einen trotzdem mit einer Beständigkeit und Ausdauer gefangen, aus der es immer weniger Entkommen zu geben scheint.
    »Kutter«, sagte Fritz und legte seine Stirn in kummervolle Querfalten. »Unser Haus hat ’n Treffer abgekriegt. Brandbombe, ’s ganze Dach im Arsch. Ich hab meim Alten noch gesagt, kauf des Haus nicht, ’n Lkw ist mobil, den treffen sie nicht so leicht, aber nein …«
    Hans hörte ihm dankbar zu. Fritz würde nach diesem Krieg nach Hause gehen, Lkw fahren, Bier t rinken, eine Frau haben und Kinder. Der Krieg würde seine Unschuld zwar ankratzen, aber nicht zerstören. Irgendwie beneidete er ihn darum. Und irgendwie verachtete er ihn dafür.
    Fritz lachte. »’s Stoppschild am Eck ham se wieder in Halt umgetauft, außerdem, Opa sein Rammler is gestorben, war sein bester Zuchthase, ’s is ’ne Katastrophe für’n Kleintierzüchterverein, er ist untröstlich. Oma muss ihm jeden Tag ’n Schnaps ins Waschbecken leeren …«
    Der Russenjunge hatte es bereits fast wieder bis zum Eingang geschafft, als Hans ihn am Krage n packte. »Wohin soll’s denn gehen?«
    Sascha starrte ihn trotzig und feindselig an. »Ich auch Hasen«, stieß er plötzlich hervor.
    Fritz und Hans sahen sich überrascht an.
    »Bist noch mal um Prügel rumgekommen«, sagte Fritz. »Wir Hasenbesitzer müssen zusamme nhalten. Oder hast du nur Karnickel?«
    »Hasen«, sagte Sascha schnell, und die plötzliche Verschlagenheit in seinem Blick machte das Kindergesicht um vieles älter. »So groß.« Seine kleinen Hände zeigten zwei Riesenhasen, und als er sich dann

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