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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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Letzte, den der Leutnant in ihr Zimmer zurückzerrte, wo er noch einen Augenblick wild um sich schlug, bis er registrierte, dass er in Sicherheit war, und sich keuchend zu Boden fallen ließ.
    Er blickte den Leutnant an, der ebenfalls nach Luft ringend und mit blutender Hand neben ihm saß, und klopfte ihm schüchtern auf die Schultern. »Dafür kriegen Sie das EK I.«
    Der Leutnant schien ihn nicht zu hören. Schwer atmend musterte er seine Männer. »Wer hat das Feuer eröffnet?«
    Piontek sah verlegen wie ein Schuljunge zu Boden. Der Leutnant folgte Bubis Blick, der sich auf den Hundsgemeinen Müller richtete. Dieser hob die Achseln. »Die Russen wollten uns angreifen. Das hab ich genau gesehen …«
    Fritz schlug ihm von hinten den Helm vom Kopf, packte ihn an den Haaren und versuchte ihn zum Ausgang zu schleifen. »Los, du Sau!«, keuchte er. »Hau ab, geh hoch, kommst sogar noch in die Zeitung: In stolzer Trauer …«
    »Du Feigling!«, fauchte HGM. »Du bist sowieso dran, wenn …«
    Der Leutnant wartete noch, bis Fritz seinem Gegner die Faust ins Gesicht gedroschen hatte, dann ging er dazwischen.
    »Na gut!«, brüllte Fritz, während er weiter versuchte, auf den bewusstlosen HGM einzuschlagen. »Ich hab Angst, ich bin feige! Und mich kotzt der ganze Scheißdreck dermaßen an!« Keuchend riss er HGM am Kragen hoch, erkannte dessen Zustand, ließ ihn fallen und stierte den Leutnant an. »Wo ist überhaupt mein Sold? Ich krieg einundneunzig Mark zwanzig, für drei Monate und einen Tag, und wenn ich die nicht auf der Stelle seh, dann geh ich nach Hause, zu Fuß durch ganz Russland! Hab nämlich was Besseres zu tun, als mich hier abknallen zu lassen!«
    Er wollte nach draußen. Rollo und Bubi warfen sich auf ihn, doch sie benötigten die Hilfe von Hans und Piontek, um den Tobenden festzuhalten.
    »Komm, Dicker!«, schrie Ro llo und versetzte ihm zwei Backpfeifen. »Ist ja gut, wir wollen alle nach Hause, ist ja gut!«
    Fritz starrte ihn an, als sehe er ihn nach langer Zeit zum ersten Mal. Dann ließ er den Kopf auf die Brust fallen und begann zu schluchzen.
    Hans zögerte, legte dann vorsichtig den Arm um den breiten, zuckenden Rücken. »Wir sollten nicht vergessen«, flüsterte er und fühlte sich unendlich müde, »dass der Gegner dort draußen ist.«
    »Genau. Sieh mich an, Dicker, sieh mich an!« Rollo fuhr Fritz unbeholfen durchs Haar. »Wir beide reißen dem Iwan den Arsch auf, pass mal auf!«
    »Achtung!« Piontek richtete seine MPi auf eine schmutzige Decke, die über einigen leeren Munitionskisten hing und unter der sich etwas bewegt hatte. Alle zielten auf die Decke.
    »Rukki werch!«, stieß der Leutnant erschöpft hervor. »Gross, was heißt ›Langsam rauskommen‹?
    Gross übersetzte.
    Tastend und vorsichtig kroch eine knochige Hand unter der Decke hervor. Ihr folgte der dürre Russe. An seiner anderen Hand hielt er den zehnjährigen Jungen, der auf Rollo geschossen hatte. Staunend betrachteten die Soldaten das ungleiche Paar.
    »Mensch«, sagte Rollo schließlich, »unsere Gefangenen! Hatt ich ganz vergessen.«

 
     
     
     
     
     
    40
     
     
    W ieder einmal wurde es Tag, und man erahnte die Sonne hinter dem Qualm und Rauch, in den die Stadt ständig gehüllt war. Die wenigen Überlebenden der Kampfgruppe von Wetzland trugen inzwischen ausnahmslos notdürftig angelegte Verbände. AGM und Bubi schoben mit brennenden Augen Wache. Alle Treppenaufgänge nach oben und unten waren gesprengt worden. Für die Essenholer lag eine aus Seilen und Stahlrohren improvisierte Leiter bereit. HGM saß mit geschwollenem Kiefer und finstere Rachepläne schmiedend in einer Ecke. Piontek bewachte, seine Axt schärfend, den rauchenden Ofen und die beiden Russen, denen man die ebenso gefährliche wie undankbare Aufgabe übertragen hatte, die schlimmsten Löcher in der Wand wenigstens notdürftig zu stopfen.
    Leutnant von Wetzland hatte im Nebenraum im Schatten der Wände aus leeren Munitionskisten eine Auflage gebaut. Durch das Zielfernrohr verfolgte er jede Bewegung im Block schräg gegenüber.
    Es war kurz nach neun, die Zeit der russischen Wasserholer. Er fixierte die Mitte der durchbrochenen Wand, wo üblicherweise ihre Köpfe auftauchten. Dies war eine Art des Tötens, die ihm lag, die er beherrschte. Die Entfernung degradierte die Menschen zu sich mechanisch bewegenden Zielen, Puppen, Gegenständen. Eine saubere Sache. Man fühlte keinen Ekel beim Töten, keinen Abscheu, und wenn man genügend Routine hatte,

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