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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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analytischen Verstand beweisen kann. Reden wir über Politik. Ich finde es ziemlich absurd, den Versailler Vertrag als Ursache für die Gräueltaten anzunehmen, die hier geschehen. Was meinen Sie?«
    Der Leutnant antwortete nicht, aber ein Lächeln huschte über sein Gesicht – ein Signal für Gross weiterzusprechen.
    »Dieses Volk der Deutschen hat es immer nur auf dem Papier gegeben, und gleichgültig, wie wild es um sich schlägt, im Krieg wird es nie eine wirkliche Identität finden. Je lauter die Marschmusik und das nationale Geheul, je größer die Leichenberge unserer Heldentaten und nicht zuletzt je fetter der Geldbeutel unserer Industrie, umso kleiner und jämmerlicher unsere wahre Identität. Charakterlosigkeit, das ist unsere hervorstechendste Eigenschaft!«
    »Wenn Sie jetzt nicht endgültig die Klappe halten, nehme ich Ihnen das Gewehr weg und schicke Sie nach Sibirien!«
    »Oh, bitte! Tun Sie das nicht! Ich kann nicht leben ohne mein Gewehr«, flüsterte Gross spöttisch. Aber dann hielt er tatsächlich den Mund.
     
    Dafür begann Rollo im Nebenraum zu jammern.
    Der Steckschuss im Oberarm pochte wie Teufel.
    Piontek zückte sein Taschenmesser. »Mensch, komm her, ich mach’s dir raus.«
    Rollo wich ängstlich zu rück.
    »Nee, du langst mich nicht an!«
    Fritz schnappte sich Rollos Arm, wickelte den Verband ab und betrachtete nachdenklich die entzündete Wunde. »Wenn du nicht aufpasst, ist der Arm ab. Dann kannste mit unserm Hauptmann als Zwillingspärchen auftreten.«
    »Quatsch.« Mürrisch zog Rollo seinen Arm zurück.
    Der dürre Russe, der gerade zwei Steine an ihnen vorbeischob, warf ebenfalls einen Blick auf die Wunde und begann auf Russisch zu reden. Erst nach einer Weile kapierten sie, dass er sich anbot, die Kugel aus Rollos Arm zu holen.
    »Du willst doch nicht den Iwan da ranlassen«, rief Piontek entsetzt.
    »Besser als dich.« Rollo hielt dem Russen den verletzten Arm hin und zog mit dem anderen seine Pistole. »Wenn du Scheiße baust, knall ich dich ab!«
    Der Russe nickte, als sei das selbstverständlich.
    Fritz desinfizierte die Klinge seines Taschenmessers über der Feuerzeugflamme und gab es dem Russen, der damit in Rollos entzündeter Wunde herumzustochern begann.
    Rollo fühlte, wie ihm schlecht wurde. E r biss die Zähne zusammen, starrte auf die gegenüberliegende Wand und dachte an einige Details aus seinen Nahkämpfen. Seltsamerweise wurde ihm dadurch etwas besser. Er wartete auf weitere Schmerzen, doch da drückte ihm der Russe schon die blutverschmierte Kugel in die Hand.
    Fritz wischte sein Taschenmesser an Rollos Hose ab. »Nicht schlecht für ’n Untermenschen.«
    Der Russe kippte Schnaps aus Rollos Feldflasche auf die Wunde. Rollo schrie auf, der Russe gab ihm rasch einen Schluck zu trinken. Rollo trank, schüttelte sich, schrie noch mal. Der Russenjunge, der bis dahin langsam und gleichgültig Steine aufeinander geschichtet hatte, lächelte zufrieden über Rollos Schmerzen. Piontek auch.
     
    Der Leutnant hatte ein kurzes Telefonat mit dem Bataillonsstab geführt. Er legte auf und wandte sich an die Männer. »Hört mal her. Aus unserer Ablösung wird nichts. Der Block muss genommen werden. Wir bekommen heute Nacht Verstärkung.«
    Die Männer sahen sich eine n Moment sprachlos an. Dann feuerte Fritz sein Taschenmesser auf den Boden.
    »Zwölfjährige?«
    »Lass mal«, wiegelte Piontek ab. »Der Hauptmann lässt uns schon nicht im Stich.«
    »Die guten Offiziere!« Gross’ Lippen kräuselten sich verächtlich. »Die kriegen sogar das Kunststück fertig, ihre Leute zu verheizen und dafür von ihnen geliebt zu werden.«
    »Jetzt ist es wirklich genug, Gross!«, fuhr ihn der Leutnant an. »Mund halten, sonst …«
    »Was sonst?«, fragte Gross herausfordernd.
    »Sonst muss ich melden, dass Sie nicht mehr die nötige Nervenstärke besitzen, um unter meinem Kommando Dienst zu tun.«
    »Ihre Entscheidung«, sagte Gross und zog sich in den Nebenraum zurück.
    Der Leutnant folgte ihm. Er brauc hte Gross hier vorne, dringend.
    »Mir können Sie erzählen, was Sie wollen«, sagte er. »Aber tun Sie das nie mehr vor den Männern. Versprechen Sie das?«
    Gross starrte seine Hände an, di e gelegentlich wie in einem Fieberschauer zitterten. Schließlich nickte er unmerklich. Mehr war von ihm nicht zu erwarten.
     
    Der Russenjunge hatte die kurze Auseinandersetzung zwischen dem Leutnant und Gross dazu benutzt, sich durch eine der Schießscharten zu zwängen.
    Rollo merkte es im

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