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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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nicht einmal freudige Erregung oder Triumph.
    Er bekam eine viel zu schmale schlaffe Mütze ins Visier. Auf den Trick fiel er nicht mehr herein. Er wartete geduldig, bis eine nicht mit Holz, sondern mit Knochen, Fleisch und Blut gefüllte Mütze sichtbar wurde, und drückte ab, ehe sie mit einem Satz das andere Ende des Zimmers erreichen konnte. Mütze und Kopf fielen aus seinem Blickfeld.
    »Macht Spaß?« Gross nahm mit seinem Gewehr neben ihm Platz.
    Sie wussten beide, dass ihre Schüsse nicht kriegsentscheidend waren, so viele Russen sie auch trafen. Während sich der Leutnant noch einredete, es sei wichtig, den eigenen Männern das Gefühl zu geben, den feindlichen Scharfschützen nicht hilflos ausgeliefert zu sein, betrachtete Gross das ganze ausschließlich als Zeitvertreib, eine Art kriegerischer Gymnastik, wie er sich ausdrückte.
    »Was ist der Krieg doch für eine wunderbare Sache«, sagte er, und seine Augen funkelten vor Spott und Selbstverachtung. »Endlich dürfen wir nach Lust und Laune töten und bekommen auch noch Orden dafür.«
    Hans beschloss, sein Gerede zu ignorieren. Er zielte an einigen Häuserresten vorbei, die sich gezackt wie riesige Granatsplitter in den rauchigen Himmel bohrten, au f eine weitere Fensterhöhle. Dahinter befand sich eine weißgetünchte Zimmerwand, ein hervorragender Kontrast, vor dem sich jedes Ziel deutlich abhob.
    »Doch, glauben Sie mir«, fuhr Gross boshaft fort, »Sie werden einen schönen, dicken Orden kriegen, direkt auf ihr böses, kaltes Herz, wenn es auch längst noch nicht so kalt ist wie meines. Aber Sie machen gute Fortschritte.«
    Als er die stumme Ablehnung des jungen Leutnants spürte, der angespannt ein neues Ziel anvisierte, wurde Gross plötzlich bewusst, wie sehr er sich an die Gespräche mit ihm gewöhnt hatte. Er hasste den Leutnant, weil er nicht mit ihm sprechen wollte, und verachtete sich dafür, überhaupt den Wunsch nach einem Gespräch zu empfinden. Die Gedanken entschwanden ihm immer öfter, ehe er sie zu Ende denken konnte, wie Kiesel, die ein paar Mal übers Wasser hüpften, ehe sie versanken. Er durfte nicht den Verstand verlieren. Nicht wegen der paar kleinen Morde oder Heldentaten, die er in diesem Krieg begangen hatte!
    Es war ihm zu Ohren gekommen, dass die Ausfälle bei den Kämpfen um die Stadt seit zwei Monaten ungefähr sechstausend Mann pro Tag betrugen. Wenn man davon ausging, dass auch sonntags gekämpft wurde, war en das bisher insgesamt dreihundertsechzigtausend Mann. Verlor deswegen einer der Befehlshaber den Verstand? Nein, sie blieben kühl und besonnen, stets aufrecht, auch wenn sie schwer an ihren Orden trugen. Es war schon seltsam mit den Verbrechen! Sobald sie groß genug waren und genügend Teilnehmer fanden, wurden sie zu Heldentaten. Gross lächelte. Jedem Übermensch sein Überverbrechen!
    Seine Gedanken verflüchtigten sich erneut, Speichel trat auf seine Lippen, während er gleichzeitig zu denken, zu zielen und zu schießen versuchte. Das war der Krieg, eine Religion der Gewalt, eine Überhöhung des Verbrechens ins Unermessliche, eine Mystifizierung, das heiliggesprochene Verbrechen, das Mysterium des Mordes. Befreit vom schlechten Gewissen, das der Staat so großzügig auf seine eigenen Schultern lud, badete man in einem Meer von Blut.
    Er kam wieder zu sich, warf ei nen Blick auf seine schmutzstarrende Uniform und sagte unvermittelt: »Im Augenblick wäre mir ein Bad lieber als das Geballer, selbst wenn ich einen General erwischen könnte.«
    Hans sah Gross’ maskenhaft erstarrtes Gesicht, und er fragte sich, wie lange er es noch rechtfertigen konnte, diesen Mann in der Gruppe zu behalten. Die Gren ze zwischen Normalität und Wahnsinn schien in seinem Gehirn mit wachsender Geschwindigkeit zu schwinden. Wenn Gross plötzlich anfinge, die Waffe auf die eigenen Leute zu richten, wäre ihm hier draußen keiner gewachsen. Zum ersten Mal bekam er Angst vor diesem Mann.
    Gross schien zu fühlen, dass er sich zu weit verloren hatte. Stumm justierte er mit einer abgebrochenen Rasierklinge, die er als Schraubenzieher benutzte, die Entfernungseinstellung der Optik.
    Hans erschien plötzlich das erschreckende Bild vor Augen, wie ihm Gross mit einer schnellen Bewegung die Rasierklinge quer durch den Hals zog. Er zwang sich, n icht länger auf die Rasierklinge zu starren, sondern sich ein neues Ziel zu suchen.
    »Also schön«, sagte Gross schlie ßlich, »reden wir über was ande res, damit ich meine Vernunft und meinen

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