Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
endgültig sicher war, nicht bestraft zu werden, gedachte er seiner Tiere voll kindlicher Liebe. »Früher viele, jetzt nur zwei. Mutter wollen alle kaputt machen und essen. Jetzt sie tot, Hasen leben. Ich sie gut versteckt.«
»Nach ’m Krieg hast wieder viele«, tröstete ihn Fritz.
»Wann ist das? Wenn ihr alle tot?«
»Du machst einem wirklich Mut.« Fritz sah sich nach erfreulicheren Gesprächspartnern um. »He, Rollo, mein Opa hat Bienenwachs geschickt, bewährtes Hausmittel gegen Reißen. Paket muss noch beim Figaro sein.«
Auf allen vieren kriechend, stieß er ins Zentrum von Robinsons Insel vor, wo Rollo wie versteinert a uf seinen Brief starrte, ihn zusammenknüllte und ihn mit schlafwandlerischer Bewegung in den Ofen stopfte.
Beunruhigt kroch Fritz an seine S eite. »Is was passiert daheim?«
Rollo starrte stumm in die Flammen.
»Bombenangriff?«
»So kann man’s auch nennen«, stieß Rollo bitter hervor. »Während ich hier den Arsch hinhalte, lässt sie sich zu Hause von ’nem Franzmann flachlegen. Von ’nem Kriegsgefangenen!«
Fritz runzelte ungläubig die Stirn. »Woher weißt ’n des? Is vielleicht nur Verleumdung!«
»Meine Alte schreibt’s mir höchstpersönlich!«, schrie Rollo und zeigte aufgebracht in die Flammen. »Sie beichtet’s mir, bevor meine Schwiegermutter mir’s schreibt. ’s ganze Viertel vögelt mit Franzmännern rum.« Dann äffte er die hohe Stimme seiner Frau so überzeugend nach, dass alle sich erschrocken umdrehten. »Was soll ich denn machen? Wer weiß, wann du wiederkommst!« Er brach ab und starrte düster in die Flammen. »Ich bring sie um, wenn ich heimkomm. Ich bring sie alle um, die ganzen Scheißweiber!«
»Nicht so laut«, zischte Fritz. »Wil lst unbedingt, dass es alle mitkriegen?«
Rollo schleuderte wütend eine n Holzscheit ins Feuer. »Franzosen, die ham wir in zwei Wochen zur Sau gemacht, aber sie war ja schon immer geil auf Nippes und den ganzen Scheiß. Jetzt gibt’s keine Gnade mehr, für niemand. Das zahl ich den Russen heim.«
«War doch ’n Franzose.«
»Scheißegal.« Rollo stocherte finster in der Asche. »Alles Verbündete.«
Piontek war aus dem Nebenraum gekommen, angelockt von Rollos Gebrüll. »So toll, wie man denkt, is es zu Hause auch nich«, sagte er bedächtig. »Braucht man sich nicht verrückt zu machen. Als ich das letzte Mal da war, hat meine Frau grade den Kleinen erwartet.« Er machte eine Pause, um sich zu erinnern, wie es tatsächlich gewesen war. »Ich war eigentlich ganz überflüssig. Ich hab sie nur beim Brüten gestört.«
Die Russen im Stockwerk über ihnen begannen wieder zu singen.
Der Leutnant begab sich in den Nebenraum und kroch zu Gross, der ebenfalls dem Gesang der Russen lauschte.
»Was meinen Sie?«, fragte er.
»Dass sie zu oft singen.«
Der Leutnant nickte. Der Plan des Regimentsstabs, die Russen auszuhungern, war kläglich gescheitert. Der Gegner hielt die angrenzenden Blocks, in denen ebenfalls nur schwache deutsche Einheiten das eine oder andere Stockwerk besetzt hatten, und erhielt über seine Nachschubwege offensichtlich ausreichend Lebensmittel und Munition.
Der Leutnant legte ein Ohr an eine Stützmauer und glaubte, weit entfernt das schwache Ticken eines Meißels zu hören.
»Wir haben natürlich keinen Sprengstoff«, murmelte er.
»Brauchen wir auch nicht«, sagte Gross trocken. »Ein Plattenspieler reicht.« Betont beiläufig fügte er hinzu. »Ruhls Zug hat einen.«
Der Leutnant lächelte schmal. »Sagen Sie ihnen, wir brauchen ihn nur bis morgen früh.«
42
E s war kurz vor Mitternacht, und der Krieg hatte sich beinahe überall zur Ruhe gelegt. Auch die Kampfgruppe von Wetzland schien in ihren Zimmern zu sitzen und vor sich hinzudösen. Ein altes Grammophon lief. Da die Platte einen Sprung hatte, wiederholte sich in regelmäßigen Abständen immer wieder dieselbe Stelle.
Das musikalische Glück der Kampfgruppe war jedoch nur von kurzer Dauer. Eine schwere Explosion beendete mit einem Schlag die Musik. Die Decke des gesamten zweiten Stockwerks stürzte auf den Boden des ersten und riss ihn, umgeben von einer gewaltigen Staubwolke, mit sich ins Erdgeschoss hinunter. Ziegel und Stahlträger begruben alles unter sich, auch das Grammophon und die Kampfgruppe.
Dafür ertönte das Jubelgeschrei der Russen. Sie kamen von überall her und begannen im kurzen Aufblitzen ihrer Taschenlampen das Erdgeschoss zu durchsuchen. Leise zischten sie einander
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