Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
Gemäuer. Sie warfen sich zu Boden, die Feuerzunge loderte knapp über sie hinweg.
Gross warf dem Ungetüm zwei Stielhandgranaten vor die Kette, die anderen schossen auf die Sturminfanterie dahinter.
Der Panzer drehte sich auf dem Schutt im Kreis, zerquetschte gefallene Russen, Deutsche, Ziegel, Rohrstücke und eine heruntergeflatterte Luftaufnahme des Barrikady-Werkes zu einem einzigen Brei.
Der Leutnant entdeckte Herbert, den Melder, der planlos, mit schmerzentstelltem Gesicht über d ie Trümmer der ehemaligen Pförtnerloge kroch. Er zog eine Blutspur, so breit wie sein Oberkörper, sein rechtes Bein hing nur noch an ein paar Sehnen. Hans robbte zu ihm.
Gross zeigte auf einen La stenaufzug schräg hinter ihnen.
»Ist doch am Arsch«, brüllte Rollo, stürzte aber dennoch hin.
Gross half dem Leutnant, den halb bewusstlosen Melder, der mechanisch die Finger seiner linken Hand bewegte, als krieche er immer noch über Geröll, zu der schief hängenden Tragfläche des Lastenaufzugs zu schleppen. Dort kappte er mit wuchtigen Hieben seines Spatens die Seile. Sie stürzten in den Keller.
Der Aufprall war hart. Herbert begann zu schreien. Sie zerrten ihn in den Keller zwischen halb ve rweste Leichen, vermoderte Bretter und Ratten.
»Vielleicht denken die Russen, wir sind tot«, stotterte Bubi.
»Mach dir keine Sorgen«, keuchte Rollo. »Die werden schon nachschauen.«
Bubi versuchte den vor Schmer z schreienden Herbert zu beruhigen. Er schaffte es nicht.
Fritz und Rollo stemmten eine halb aus den Angeln gerissene Tür auf, doch dahinter türmte sich ein Schuttberg, der fast bis an die Betondecke reichte.
»Wir müssen hier durch! Versucht, oben einen Durchschlupf zu schaffen!«, befahl der Leutnant.
»Wir können das Z eug wegsprengen«, meinte Rollo.
»Und uns mit dazu!«
Hans trennte mit dem Taschenmesser die Sehnen ab, an denen Herberts zerquetschtes Bein hing, und band den Stumpf mit der Mullbinde aus dem Verbandspäckchen ab, so fest er konnte. Der Melder wurde ohnmächtig, was gut war, denn oberhalb des Aufzugschachtes hörte man russische Stimmen, die sich laut etwas zuriefen.
Hans, Rollo und Fritz arbei teten mit Spaten und bloßen Händen fieberhaft, um zwischen der Betondecke und dem Schutthaufen einen Durchschlupf zu graben. Gross sicherte den Aufzugsschacht.
Eine Handgranate polterte von oben herab, fiel durch das knietiefe Wasser auf den Schachtgrund, explodierte aber nicht. Gross schaute über die Schulter zurück, seine Lippen formten:
»Blindgänger.«
Er lauschte nach oben und zischte in Richtung Tür: »Schnell, sie rufen nach einem Flammenwerfer!«
Gleich darauf war es so weit. Keuchend und stöhnend schob sich Fritz über den Schuttberg.
Eine zweite Handgranate fiel in den Schacht. Durch die schräg stehenden, verkeilten Bretter des Aufzuges ging die Wucht der Explosion größtenteils nach oben.
Fast taub schleppten Hans und Bubi den ohnmächtigen Melder zum Schutthaufen, dort nahm ihn Gross in Empfang, zerrte, schob, fluchte, das Blut aus dem Beinstumpf verschmierte sein Gesicht. Dann hatte Fritz den Verwundeten von der anderen Seite gepackt und zog ihn durch das Loch. Bubi war als Nächster dran, dann Rollo.
»Jetzt Sie, los, los!« Gross zog Hans nach oben. Der zwängte sich keuchend in das Loch, überließ sich den Händen, die von drüben nach ihm griffen und ihn auf die andere Seite zerrten. Gleich darauf war auch Gross drüben – gerade noch rechtzeitig. Die Russen oben hatten den Flammenwerfer bekommen, nach dem sie gerufen hatten. Der Kellerraum verwandelte sich mit einem dumpfen Atemzug in ein Flammenmeer.
44
D ie Gänge hinter dem Schutthaufen waren schmal, feucht, dunkel und leer. Gross und Fritz stellten aus ihren Koppeln und zwei ehemaligen Wasserrohren eine Trage her, auf die sie den bewusstlosen Herbert legten. Vorsichtig tasteten sie sich durch die Dunkelheit. Sie wagten nicht, ihre Taschenlampen zu benutzen. Gross, der die Hindernisse in der Dunkelheit zu erahnen schien, ging voraus, dahinter kam Hans. Fritz und Bubi folgten mit der Trage, und Rollo bildete das Schlusslicht.
In dem Labyrinth wassertropfender Gänge verloren alle bis auf Gross schnell jegliche Orientierung. Ein Paradox, das hervorragend in dieses groteske Kriegsspektakel passte, dass sie diesem Mann mit seinem Hang zum Sterben immer wieder ihr Überleben verdankten, dachte Hans.
Ein unterirdischer Saal öffnete sich vor ihnen. Durch Löcher in der Decke fiel
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