Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
auf die Traktoren klettern, um sie zu lenken, und begriff, dass sie den Rest des Weges allein mit den Schaufeln würden freiräumen müssen. Mit einer Geschwindigkeit, die ihn selbst erstaunte, lief er seinem ehemaligen Untergebenen hinterher und fasste ihn an der Schulter, als d er gerade in den Lastwagen steigen wollte.
»Das können Sie nicht machen!«, schrie er. »Ohne die Fahrzeuge schaffen wir es unmöglich bis zum Bahnhof!« Er zwang sich, seine Stimme ruhig zu halten. »Sie haben Ihren Spaß gehabt, seien Sie jetzt vernünftig!« Undeutlich sah er, wie zwei Mundwinkel verächtlich nach unten gezogen wurd en, sich dann abwandten und ver schwanden. Blind und ohne Rücksicht auf die Folgen versuchte er sich auf diese hassenswerte Kreatur zu stürzen, die sie ohne die geringsten Skrupel dem sicheren Tod auslieferte, doch bereits nach wenigen Bewegungen brach er in die Knie.
»Dann erschießt uns doch gleich! «, schrie er mit letzter Kraft.
Das Motorengeräusch des Lastwagens wurde vom Heulen des Sturms verschluckt, und die Welt versank vor seinen Augen zu einem konturlosen, weißgrauen Gebilde. Undeutlich spürte er, wie ihm etwas Hartes zwischen die Lippen geschoben wurde. Es war Gross, der versuchte, ihn mit einem Stück Brot zu füttern. Zitternd drehte er den Kopf weg, doch Gross gab nicht auf.
»Sie denken, Sie hätten kein en Funken Selbstachtung und Ehrgefühl mehr, wenn Sie das Brot essen, stimmt’s?«
Hans nickte schwach.
»Blödsinn!« Gross schob ihm das Brot so tief in den Mund, dass Hans abbeißen musste, um nicht zu ersticken.
»Sie denken: Wie kann ein Mensch nur so blöde sein, diese Hölle auch nur eine Sekunde länger zu ertragen? Stimmt’s?«
Hans nickte wieder.
»Noch größerer Blödsinn!« Gross streute etwas Schnee auf das Brot, damit es im Mund rascher weich wurde, und biss selber ein Stück ab. »Sich jetzt die Kugel verpassen zu lassen, das wäre die allergrößte Feigheit!«
Hans sah ihn verständnislos an.
»Du sollst nicht töten«, sagte Gross, »nicht einmal dich selbst.« Hans sah sein fahles Zahnfleisch, das im Zwielicht beinahe weiß über den schwarzen Zähnen wirkte, und fühlte plötzlich den Griff einer Hand, die selbst unter den Lumpen noch knochig und hart war. »Halten Sie durch. Versprechen Sie es! Lassen Sie mich nicht im Stich«, sagte Gross jetzt so le ise, dass Hans nur seine Lippenbewegungen sehen konnte. »Auch beim Sterben kommt es auf den richtigen Zeitpunkt an. Jetzt ist es noch zu früh, glauben Sie’s mir!«
Darüber begannen sie beide zu lachen, bis die Eiszapfen in ihren Barthaaren brachen. Die Posten betra chteten sie entsetzt. Dieses gespenstische Lachen machte ihnen Angst. Mit angelegtem Gewehr und scheuen Fußtritten scheuchten sie die zwei Wahnsinnigen hoch und zurück an die Arbeit.
Die Leiber der Russen und Deutschen verschmolzen zu einem dunklen Brei.
Es wurde in mehreren Stufen gearbeitet, sodass die Leute wie auf einer sich ständig vorschieb enden Treppe standen. Als Minenräumer wurden ausschließlich Russen eingesetzt. Sie hatten zunächst Glück. Die besten Plätze waren in der Mitte. Dort befand sich Rollo. Durch die ständige Bewegung und die Nähe der anderen verwandelte sich der festgefrorene Dreck auf seiner Haut allmählich wieder in eine schmierige Schweißschicht.
Etwas schlug ihm auf den Rücken. Er arbeitete weiter. Wieder ein Schlag, diesmal stärker. Er drehte sich um. Hinter ihm stand ein zerlumpter Russe.
»Hau ab, Iwan!«
Der Russe grinste und Rollo erkannte erst jetzt die lange, dürre Gestalt.
»Mensch, Freitag!«
Freitag zerquetschte ihm volle r Rührung die Schultern und zauberte aus seiner zerschlissenen Jacke eine zerbeulte Feldflasche hervor.
»Robinson. Rollo Robinson, na sdorowje!«
Rollo nahm einen tiefen Schluck. Es war sein Lieblingsgetränk. Er nahm noch einen Schluck. Die anderen murrten und schoben die beiden weiter. Die Posten bemerkten den Strudel in der ansonsten gleichförmigen Flut der Leiber und brüllten in den Wind. Schimpfend schrien sie so laut sie konnten, aber viel wärmer wurde ihnen dadurch nicht.
Stunden später. Es war längst dunkel geworden. Der Sturm hatte nachgelassen, und am Himmel blinkte scheu ein kleiner Stern. Keiner sah ihn. Die Männer wankten und torkelten mit stumpfem Blick durch den Schnee. Mechanisch wurden die Schaufeln bewegt.
Bubi und ein Hiwi steckten a ls Markierungen Pferdeoberschenkelknochen in den Schnee. Ihre Gesichter waren von Reif bedeckt.
Weitere Kostenlose Bücher