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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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Wetzland?«
    Hans versuchte aufzustehen, aber die Wachen hielten ihn immer noch fest.
    Hentz gab ihnen einen Wink, ihn loszulassen. Er lächelte Hans an. »Das letzte Mal, als wir das Vergnügen hatten, waren Sie bedeutend sauberer.«
    Hans versuchte ebenfalls ein Lächeln, aber es wurde nur eine Grimasse daraus.
    »Ihren Onkel kenne ich gut«, fuhr der General fort. »Prima Kerl. Was macht denn der Kleine, der nach dem ersten Angriff die Bandagen verloren hatte? Lebt er noch?«
    »Bis jetzt schon«, flüstert e Hans. »Wenn nicht das Standgericht …« Er biss sich auf die Lippen, um nicht wieder die Fassung zu verlieren.
    »So schnell sind wir mit dem Erschießen nicht«, erklärte Hentz jovial. Dann wurde sein Tonfall wieder sachlich. »Ist allerdings ein Kapitalvergehen. Ungeschoren werden Sie nicht davonkommen.« Er drehte sich um und ging zum Kartentisch zurück. »Musk, kommen Sie nachher zu mir.« Er warf einen Blick auf die Uhr und fuhr die Posten ungeduldig an: »Bringt ihn raus. In Verwahrung nehmen.« Dann senkte er kurz den Kopf, um seine Gedanken zu sammeln. »So, weiter im Text.«
    Er fand den Einstieg wieder, streck te sich, wippte auf den Stiefelspitzen. »Der Verpflegungssatz für unsere Division wird ab sofort auf die Hälfte reduziert …«
    Das war das Letzte, was Hans hö rte, bevor sich die Tür aus massivem Eichenholz hinter ihm schloss. Hans spürte, wie alles, woran er früher geglaubt hatte, endgültig in ihm zerbrach.

 
     
     
     
     
     
    DRITTES BUCH

 
     
     
     
     
     
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    E inen Monat später. Der General hatte sein Wort gehalten und sie begnadigt. Fünfunddreißig Grad unter Null. Ein heftiger Sturm heulte über die Steppe, trieb mit hoher Geschwindigkeit Wolken messerscharfer Eiskristalle vor sich her, türmte den bereits gefallenen Schnee zu hohen, harten Wehen auf und riss unbarmherzig an den zerfetzten und völlig verdreckten Uniformen der Männer einer Strafkompanie, die mit Schneeschaufeln und zwei winzigen Räumfahrzeugen versuchten, eine zugewehte Straße freizubekommen.
    Vor ihnen dehnte sich eine unendlich scheinende, glatte , baumlose Ebene, hinter ihnen schnitt die freigeschaufelte Strecke wie ein kleines erstarrtes Rinnsal zwei Meter tief in den Schnee. Feldgendarmen in gefütterter Winterkleidung, die Karabiner umgehängt, stemmten sich gegen den Sturm. Sie froren trotz ihrer warmen Mäntel. Wieder einmal waren fünf Minuten um. Oder auch zehn. So genau wusste das keiner von denen, die schaufelten; ihre Empfindungen waren längst eingefroren, auch das Gefühl für die Zeit. Nur gelegentlich taumelten sie aus immer tieferer Stumpfheit empor, in der bereits wirre Traumansätze eine willkommene Abwechslung schufen. Meistens war es ein Schmerz, der sie wachrüttelte, oder ein besonders starker Windstoß, der den Flügelmann gegen den nächsten warf und die ganze Reihe ins Wanken brachte; manchmal fiel auch der eine oder andere um, und das kam ihnen nicht einmal ungelegen, denn so konnten sie eine kleine Rast einlegen, nicht zu lange, damit die Glieder nicht gefühllos wurden.
    Einer der Sträflinge, der ehemalige Leutnant Hans von Wetzland, nahm das Tuch vom Gesicht, das er sich zum Schutz gegen die Kälte umgebunden hatte, und reichte es an den ehemaligen Grenadier Bernhard Müller, genannt Bubi, weiter. Dessen Gesicht war ebenso wie das der ehemaligen Sturmpioniere Fritz, Rollo und Gross weiß vor Kälte, soweit man es hinter den Lumpen und wucherndem Barthaar erkennen konnte. Von ihren Uniformen, die an vielen Stellen von Stoffbandagen zusammengehalten wurden, waren alle Abzeichen und Orden entfernt. Um die Stiefel hatten sie Zeitungspapier und Deckenreste gebunden, unter der dreckstarrenden Wäsche trugen sie ebenfalls Zeitungspapier – genau so, wie es in den deutschen Heereszeitschriften empfohlen wurde. Jetzt lachte niemand mehr darüber.
    Die Erinnerung war wie ein Fiebertraum: Der Bunker und das Warten auf das Standgericht; der kurze Prozess , die ungeheure Erleichterung über das Urteil; dann, ein Hammerschlag, der erste Tag in der eisigen Steppe. Das Fleisch stößt in Bereiche vor, die dem Gehirn verwehrt sind. Wenn alles um einen erfriert, wird man von seinem eigenen Denken in sich hineingezwängt. Bilder von übergroßer Deutlichkeit, die Erinnerung gestochen scharf. Jeder Schritt ein Schritt durch die Vergangenheit. Die Luft voll schneidender Messer – das war so ein Gedanke, ein Wort, das kurz in Hans’ Gehirn aufblitzte, das er mechanisch

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