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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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immer wieder hervorholte, an das er sich klammerte, im trägen Takt seiner Schaufel – bis ihn eine dumpfe Explosion unterbrach.
    Einen der Minensucher hatte es erwischt. Es verging kaum ein Tag, an dem es nicht einen erwischte. Die Minen waren von den Russen im Spätsommer bei ihrem Rückzug gelegt worden und konnten unter der zwei Meter dicken Schneeschicht nur schwer ausgemacht werden. Meistens erst beim Schaufeln, wenn es zu spät war. Ihr einziges Glück war, dass es in der Kälte viele Blindgänger gab.
    Mit seinen Lumpenstiefeln watete Hans mühsam zu einem flachen Krater, in den das Blut aus einem beinlosen Torso lief. Es war nicht Gross, das war die Hauptsache. Diepke, ein Gastwirt aus dem bergischen Land, hätte nur noch zwei Punkte gebraucht, um wieder zu einer regulären Einheit zurückkehren zu dürfen. Deswegen hatte er sich freiwillig zum Minenräumen gemeldet. Er hatte bereits jeden Abend von einem Bett und einer gebratenen Ente geredet, und die anderen hatten gedroht, ihm die Fresse zu polieren, wenn er damit nicht aufhörte. Jetzt starrte Diepke auf seine blutspritzenden Beinstümpfe. Es war schnell vorbei. Der Frost erstickte alles, auch den Schrei. Sein Kopf fiel zurück, Schnee bedeckte seine Augen und wehte in seinen offenen Mund. Die Männer beobachteten gleichgültig, wie das Blut in langen, an dünnen Fäden hängenden Tropfen gefror.
    Die Wachen beendeten die P ause und trieben sie mit Kolbenschlägen wieder an die Arbeit zurück. Der Tote wurde neben die Straße gelegt, wo ihn rasch der angewehte Schnee bedeckte.
     
    Auch Hans schaufelte weiter. Um seine entkräfteten Arme und Beine zu vergessen, versuchte er sich den letzten Schmerz des Toten vorzustellen, den letzten Schmerz überhaupt, den unvorstellbaren Schmerz. Ohne es zu bemerken, begann er schneller zu arbeiten. Kalter Schweiß gefror in seinem Bart, und er verfiel wieder in seine Lieblingsvision: das harte, faltige Gesicht der Heckenschützin aus der Kanalisation in seinem Fadenkreuz.
    Er drückte nicht ab, sondern ging auf sie zu. Sie lehnte mit ausgebreiteten Armen an einer Wand, er trat durch sie hindurch, und ihr splitterndes Bild setzte sich zu allen möglichen Frauenbildern zusammen, deren Bruchstücke seine Erinnerung noch enthielt, bis es die Züge seiner Verlobten annahm und zu Schnee und Eis erstarrte. Ihr weißer Kopf lag auf der Schaufel, er schaufelte ihn wie selbstverständlich weg, stieß die Schaufel wieder in den Schnee, und wieder wuchs ihm aus den Schneemassen ihr Gesicht entgegen, und wieder schaufelte er es beiseite und wieder und wieder und schneller und schneller, bis er so erschöpft war, dass ihn ein Windstoß in die pulvrigen Schneemassen stieß.
    Es tat unendlich gut zu liegen. Er sah Fritz und Rollo, die sich auf einem der Räumfahrzeuge um die Führung balgten, und es sah so komisch und unwirklich aus, das s er lachte und durch die plötzliche Grimasse seine zerschundenen Lippen zu bluten begannen.
    Einer der Wachposten stieß Rollo vom Schneepflug. Rollo schrie, er würde bereits seit zwei Stunden ununterbrochen schippen und Fritz sich seit Tagen vor der Arbeit drücken, aber er erntete nur einen Kolbenhieb. Daraufhin bezeichnete er den Posten als Schweine fresse, und dieser ging auf ihn los. Zu Rollos Glück wuchsen die Umrisse eines Lastwagens hinter ihm aus dem grauen Himmel, was den Feldgendarmen, dessen einzige Abwechslung darin bestand, die Gefangenen zu schlagen, von weiteren Misshandlungen abhielt.
    Zwei Soldaten mit langen Mänteln und Pelzmützen trieben einen Haufen zerlumpter Russen von der Ladefläche. Bei den Russen handelte es sich um sogenannte »Hiwis«, Hilfsfreiwillige, arme Teufel, deren Zukunftsaussichten darin bestanden, sich entweder bei Räumungsarbeiten für die Deutschen zu Tode zu schuften oder später von der russischen Armee als Kollaborateure erschossen zu werden. Bei den zwei deutschen Soldaten handelte es sich um Piontek, der nach wie vor seine Axt im Gürtel spazieren trug, und den Hunds-gemeinen Müller, der inzwischen für seine Dienste am Vaterland mit einer Beförderung zum Obergefreiten und einem EK II belohnt worden war.
    HGM ging sofort auf den Posten los. Die Beförderung und der Orden hatten seiner inneren Verfassung sichtlich gutgetan; selbst seine Akne hatte sich gebessert.
    »Wohl von allen guten Geistern verlassen, hier wertvollen Sprit zu vergeuden! Wir brauchen jeden Tropfen an der Front!«
    »Und wie soll ich das schaffen bis zum Bahnhof?«, schrie der

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