Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
Wachposten gegen den Wind zurück. »Ich muss bis heute Abend die Straße freikriegen!«
»Die sind billiger als Benzin.« HGM wandte sich den Hiwis zu. »Los, los, jeder nimmt sich eine Schaufel, dawai!«
Seine ehemaligen Kameraden beobachteten, wie er die Russen mit Stiefeltritten zu den Schippen trieb.
»Ganz schön viel Blech an der Titte«, murmelte Bubi, vor Kälte zitternd. »Arschloch«, knurrte Fritz auf seinem altersschwachen Traktor.
HGM trat zu Hans, der erschöpft im Windschatten des Lkws lehnte. Sein behandschuhter Fin ger fuhr unter das Kinn des ehemaligen Vorgesetzen. »Na, Herr Leutnant, wollen Sie mich noch immer vors Kriegsgericht bringen?«
Er konnte nicht verhindern, dass er vor dem Gesicht, in das er blickte, erschrak. Ein Monat in dieser Eiswüste hatte die frühere Schönheit aus den Zügen des Leutnants getilgt. Blutleere Lippen, eingefallene graue Wangen unter reifbedeckten grauen Bartfäden, grau geworden auch die zuvor blauen Augen, die stumpf und wie eingegossen tief in den Höhlen saßen, und darüber die vereisten weißen Haarsträhnen.
»Ich bin kein Leutnant mehr«, murmelte die Schreckensgestalt.
Dieser Mann war kein Gegner, schon gar nicht für den frischgebackenen Obergefreiten Müller. Dieser Mann war ein Wrack.
»Jetzt seid ihr endlich alle da, wo ih r hingehört«, stieß der Hundsgemeine Müller hervor, aber es klang nicht sehr überzeugt.
Fritz stand mit den anderen am Traktor und wärmte seine mit Lumpen umwickelten Hände am laufenden Motor. Er liebte den Gestank von heißem, verbranntem Öl mehr als je zuvor. Wie immer, wenn er nicht völlig am Ende war, bekam er Hungerkrämpfe. Sein Blick fiel auf Bubi, der sich zähneklappernd an Rollo schmiegte.
»Frag Piontek, ob er dir ’n Stück Brot gibt.« Er versuchte Bubi zuzublinzeln wie früher, was ihm aber mit den schneeverklebten Augen und gefrorenen Wimpern n icht gelang. »Du machst am meisten Eindruck.«
Bubi nickte und wankte auf Piontek zu, der wie ein Fels im Sturm dastand und sich wunderte, weil d ie anderen alle wie besoffen herumtorkelten.
»Hast du ’n bisschen Brot?«, rief ihm der Kleine zu. Er musste seine Frage wiederholen, bis ihn Piontek verstand. Unbehaglich blickte er sich um.
»Das ist streng verboten! Was habt ihr auch immer dagegen geredet«, hörte Bubi undeutlich. »Das habt ihr jetzt davon!« Trotzdem zog er sich den rechten Fäustling aus, langte in den Brotbeutel und drückte Bubi einen Kanten Brot in die Hand. »Hier, nimm. Aber iss es allein!«
Bubi dachte auch gar nicht daran zu teilen, aber ehe er den ersten Bissen in den Mund schieben konnte, wurde ihm das Brot aus der Hand gerissen.
»Ihr wollt Brot?« Der Hundsgemeine Müller hielt den Kanten hoch in die Luft. »Könnt ihr haben!« In der Hoffnung, doch noch einen Funken Widerstand zu entfachen, den er dann austreten konnte, baute er sich wieder vor Hans auf und hielt ihm das Brot unter die Nase. »Sagen Sie bitte, Sie ehemaliger Leutnant!«
Die anderen Männer folgten ih m wie ein Rudel fußkranker Schakale. Hans hob langsam den Kopf. Undeutlich sah er das Stück Brot vor seinen Augen tanzen und verschwommen dahinter den Fleck eines Gesichts, in das er hätte reinschlagen, das er hätte zertreten müssen. Aber es war wieder nur das kümmerliche Wunschbild seiner fieberkranken Fantasie. Er war zu erschöpft, um irgendetwas zu tun, er war sogar zu erschöpft, um »bitte« zu sagen.
Die Scham fiel wie ein dunkles Tuch über ihn, er spürte den vor Hunger rasenden Halbkreis der Männer, hörte seltsam dünn ihre krächzend gebrüllten Aufforderungen und dazwischen die helle Stimme von HGM. Es ekelte ihn vor ihnen und vor sich selbst. Er murmelte »bitte«, nur um endlich seine Ruhe zu haben, und dann schrie er es HGM, der es noch einm al hören wollte, so laut ins Gesicht, dass dieser erschrocken zurückfuhr.
Müller griff sicherheitshalber nach seiner Pistol e. Er sah die Fratzen der anderen Männer, die ihn umringten und bereit waren, ihn zu zerfetzen, und die unterdrückte Angst vor ihnen machte sein Gesicht noch abstoßender.
»Hier!« Rasch warf er das Brotstück in den Schnee, ließ hastig ein weiteres folgen, dann – bereit s wieder voller Hohn und Selbstsicherheit – noch eines. Zufrieden betrachtete er sein Werk, ein Knäuel ineinanderverkeilter, gierig kauender Männer.
Die Räumfahrzeuge waren von Piontek und zwei Wachposten inzwischen an den Lkw gehängt worden. Hans hob müde den Kopf, sah die zwei Posten
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